Unscheinbar
heute wie ein schlechter Scherz klang, war vor 30 Jahren todernst. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nachdenklich starrte Emma auf ihre Füsse.
„Vielweiberei. Also Ehebruch. Ebenfalls eines der Gebote. Der Selbstmord passt aber nicht so richtig in diese Liste.“
„Was ist damit, dass man nicht töten soll?“, gab der Pfarrer zu bedenken.
„Gehört der Mord an sich selbst da auch dazu?“
Der Pfarrer zuckte mit Schultern. „Ich habe mich noch nie so genau mit dem Gedanken auseinandersetzen müssen, wie sich das fünfte Gebot auslegen lässt. Es gibt hierzu sicher einige spannende Meinungen. Dem gehe ich mal nach, aus reiner Neugierde.“
Sofort war Emma wieder wohler. „Ihnen fällt nicht zufällig noch etwas ein?“
Ein kurzer Blick gen‘ Himmel, ein Naserümpfen, dann folgte die Andeutung eines Kopfschüttelns. „Nein, das war’s, glaube ich. Aber wenn mir noch etwas einfällt, weiss ich, wo ich Sie finde.“
„Danke. Und auch wenn Sie’s nicht wüssten, das Dorf weiss es auf jeden Fall.“
Er musste lächeln.
Ja. Wirklich ein Verlust für die Frauenwelt.
Emma drehte ihm den Rücken zu und spazierte zum Haupteingang zurück. Sie war schon fast zur Tür raus, als der Pfarrer sie zurückrief.
„Mein Vorgänger, er weiss bestimmt mehr!“
Emma drehte sich noch einmal zu ihm um. „Und wo finde ich ihn?“
„Er ist wohl auf der Jagd.“
„Auf der Jagd? Um diese Jahreszeit? Was jagt er? Schmetterlinge?“
„Fast. Käfer.“
„Urgh, wie eklig. Und wann kann man normalerweise mit ihm sprechen?“
„Entweder Sie gehen in seine Waldhütte oder Sie warten, bis er zurückkommt.“
„Dann warte ich.“
„Das dauert in der Regel aber bis zu einem Monat.“
„Oh. Dann denke ich nochmals darüber nach. Wo finde ich denn diese Waldhütte?“
„Sie folgen der alten Strasse, die zum Grundstück der Reichs führt, fahren aber an der Abzweigung vorbei, immer weiter bis auf die Anhöhe. Am Strassenrand finden Sie ein verwittertes Holzkreuz. Das steht aber nicht dort um einen Unfallort zu kennzeichnen, sondern den Weg zur Hütte.“
„Er hat sich das Zeichen seines Berufes als Logo genommen? So wie der Seefahrer sich einen Anker tätowieren lässt?“
„Dann noch lieber das Kreuz an der Strasse, als ein Kruzifix in der Haut. Meinen Sie nicht?“
„Auf jeden Fall! Vielen Dank!“ Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln und verliess das Gotteshaus.
Sollte sie den Pfarrer wirklich aufsuchen? Ging er nicht in seine Waldhütte um Ruhe zu haben? Wahrscheinlich würde er sie mit Schimpf und Schande vertreiben, wenn er erst erfuhr, wofür sie sich interessierte. Und wie sollte sie dorthin kommen? Sie hatte kein Auto mehr. Denjenigen, den sie um einen Chauffeursdienst hätte bitten können, hatte sie verärgert.
Ob Walter ihr noch ein Auto geben würde?
Und da fiel ihr ein, weshalb Ben ein gelbes Motorrad fuhr und nicht seine schwarze Maschine und warum sie auch das zweite Auto verloren hatte.
Die Felslawine.
Was hatte der Pfarrer gesagt, welche Strasse sie nehmen sollte? Die zu den Reichs?
Wunderbar. Genau die Strasse war zugeschüttet.
Sie konnte überhaupt nicht zu der Hütte gelangen. Und der alte Pfarrer konnte umgekehrt nicht mehr ins Dorf zurück. Es sein denn, er kannte einen Weg zu Fuss.
Es gab sicher einen Wanderweg. Nur, wie lange wäre sie unterwegs? War das sinnvoll?
Emma gab sich ein Nein zur Antwort. Es musste doch noch jemand anderes geben, der Bescheid wusste und sein Wissen auch mit ihr teilen wollte.
Grübelnd schlenderte Emma an der Seite des Kirchenschiffs entlang, bis zum Fuss des erhabenen Glockenturms. Als sie den Weg einschlagen wollte, der vom Kirchgelände weg führte, hörte sie über sich ein schabendes Geräusch. Sie blieb stehen und blickte nach oben. Neugierig musterte sie den Glockenturm und dessen Öffnungen, aber sie konnte nichts entdecken. Achselzuckend setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie machte einen Schritt. Nur einen einzigen. Da traf etwas klirrend auf dem Boden auf. Direkt neben ihr.
Emma fuhr erschrocken herum. Unzählige steinerne Scherben lagen auf dem Boden verteilt. Exakt dort, wo sie gerade eben noch gestanden hatte.
Zögernd erhob Emma den Blick noch einmal. Wieder konnte sie nichts Ungewöhnliches erkennen. Nur eine Taube, die aus einer der Öffnungen davon flog.
Stirnrunzelnd besah sie sich die Scherben.
Eine Figur. Eindeutig. Ein Stück des Bildnisses war in Takt geblieben. Es zeigte ein Gesicht. Und Emma erkannte, um wessen Gesicht es
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