Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unscheinbar

Unscheinbar

Titel: Unscheinbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Berger
Vom Netzwerk:
glaube, ich verstehe. Sie fragen sich, was die Reichs ausgefressen haben könnten, um ein solches Schicksal zu verdienen?“
    Emma nickte vage. „Ja, so in etwa.“
    „Tja, dann haben Sie Recht mit meinem Alter. So genau erhielt ich keine Einsicht in die Familiengeschichte, als ich hierher kam. Mein Vorgänger weiss da sicher mehr.“
    Enttäuscht blies Emma ihre Backen auf und liess die Luft dann langsam wieder entweichen, als der Pfarrer den Blickkontakt wieder aufzubauen suchte. „Aber ein bisschen was kann ich Ihnen vielleicht trotzdem auf den Weg geben.“
    „Im Ernst? Was denn?“ Auf einmal war Emma ganz aufgeregt. Ihr ganzer Körper kribbelte, als sässe sie auf einem Ameisennest.
    „Warten Sie. Da war der Bernard Reich, nein, Knecht, Bernard Knecht“, korrigierte er sich. „Er war der Bruder der Frau Reich. Und sie war eine ehemalige Knecht. So stimmt’s. Jedenfalls waren dieser Bernard und seine Frau Käthe stolze Besitzer eines ansehnlichen Hauses ein ganzes Stück weiter hinten im Tal. Sie lebten zusammen mit Käthes Mutter unter einem Dach. Offenbar wollte das Ehepaar Knecht das Haus aber umbauen oder sie bauten es gar um. In den neuen Plänen fand aber die alte Dame keinen Platz mehr. Anstatt die Pläne anzupassen, wollte man die Frau kurzerhand ausquartieren. Soweit ich mich erinnere, fand das Ehepaar aber nicht gleich ein freies Zimmer im Altersheim, also begann der Umbau, noch während die Dame im Haus lebte. Man riss Wände ein, um die Räume heller und grösser zu gestalten. Diesen Massnahmen fiel das Schlafzimmer der alten Dame zum Opfer, noch während sie darin wohnte.“
    „Wie jetzt? Dann hatte die Gute eines schönen Tages einfach keine Wände mehr?“
    „So kann man sich das wohl vorstellen. Man munkelt, diese drastische Art hätte dazu führen sollen, dass die alte Dame es zu ungemütlich fand, weiter dort zu hausen und freiwillig auszog. Dieser Schuss ging aber nach hinten los. Einer der grossen Deckenbalken barst in zwei Teile und hätte die Gute beinahe erwischt. Der Boden zum oberen Stockwerk brach an dieser Stelle ein, aber der Schutt traf sie nicht. Dennoch schien die Aufregung zu viel gewesen zu sein. Sie legte sich in ihr staubiges Bett - wohl um sich zu beruhigen - schlief ein, und wachte nie wieder auf.“
    „Das ist ja gemein!“ Emma war empört. „Bernard und Käthe haben die alte Dame auf dem Gewissen. Dachten die Menschen hier deshalb, die beiden hätten dafür die Quittung erhalten?“
    Der Pfarre nickte zustimmend. „Das und weil sie die Mutter nicht ehrten.“
    „Die zehn Gebote.“ Auf einmal zog sich Emmas Magen zusammen. „Du sollst Vater und Mutter ehren.“
    „Ich bin beeindruckt.“
    „Glücksgriff. Ich kenne lange nicht alle. Aber kennen Sie dafür noch mehr Hintergrundgeschichten?“
    „Spontan fällt mir noch die von Miriam und Ruben ein. Soweit ich weiss, war Miriam die Schwester vom Vater Reich, also von Ruths Ehemann. Sie hat sich aus Verzweiflung am Tenn in der Hütte auf der Alp erhängt, weil ihr Ruben von dort nicht mehr zu ihr zurückgekommen ist, während alle anderen Bauern nach dem Sommer auf der Alp zusammen mit ihrem Vieh wieder nach Hause gefunden hatten. Ruben sagte man sowieso schon Vielweiberei nach, und als er dann noch die Rückkehr verpasste, wurde es Miriam zu bunt. Sie wollte es genau wissen, marschierte alleine auf die Alp. Was dann dort oben geschah, weiss niemand so genau. Jedenfalls fanden die Reich-Jungs Miriam schliesslich an einem Strick hängend im Tenn wieder. Sie begruben sie.“
    „Und Ruben?“
    „Den sah man nie wieder. Man könnte meinen, er sei einfach abgehauen. Seltsam erscheint dann aber, was des Nachts nach der Beerdigung Miriams geschah.“
    Emma bekam Gänsehaut. „Was ist passiert?“
    „Die Alphütte brannte bis auf die Grundmauern nieder. Einfach so.“
    „Einfach so?“
    „So scheint es zumindest. Im Dorf hält sich aber hartnäckig das Gerücht, Miriam hätte das Haus angezündet.“
    „Aber Miriam war doch tot, oder doch nicht?“
    „Oh, sie war tot. Aber sie hatte Selbstmord begangen. Sich den Todeszeitpunkt selbst zu erwählen war ein Akt gegen das Schicksal. Der Todeszeitpunkt eines jeden ist vorbestimmt. Nimmt man sich das Recht, oder eher die Frechheit, heraus, sich über diese Bestimmung hinwegzusetzen, muss man büssen. Und zwar bis zu dem Tag, an dem der Tod eigentlich hätte kommen sollen. So ist die Regel.“ In den Augen des Pfarrers flackerte der Schalk, aber Emma wusste, was

Weitere Kostenlose Bücher