Unscheinbar
Ben die Eingebung, weshalb der Boden hier noch der Alte war.
Das war Jens‘ Bereich. Jens hasste Veränderungen. Während unten alles modernisiert worden war, hatte er sich dem entzogen, indem er sich im obersten Stockwerk sein eigenes Reich geschaffen hatte.
Mist.
Ben kam gerade am Absatz der nächsten Treppe an, als er ein schlurfendes Geräusch von unten hörte. Er drängte Emma zurück, riss die nächstbeste Tür auf, schob sie hinein und schlüpfte selbst hinterher. Ben zog die Tür zu, ging in die Hocke und spähte durch das Schlüsselloch. Die Türfalle schnappte gerade ein, als ein Schatten vor der Tür auftauchte und wieder verschwand.
Kurze Zeit war es mucksmäuschenstill.
Vor Bens innerem Auge spielte sich die Szene ab, die direkt auf der anderen Seite des dünnen Türblatts stattfand. Jens hatte das Klicken der Türfalle gehört, er hielt inne, horchte, ging auf die Tür zu, hinter der sich Emma und Ben versteckten, legte sein Ohr an das Holz und lauschte. Ben stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn die Türfalle, die er noch in den Händen hielt, hinuntergedrückt würde, die Tür sich öffnete und Jens wutschnaubend im Blickfeld auftauchte.
Doch die Türklinke bewegte sich nicht. Stattdessen kam aus dem Zimmer nebenan ein dumpfes Plumpsen.
Schuhe, die auf dem Boden landeten?
Möglich.
Ben holte tief Luft, ehe er die Tür einen winzigen Spalt öffnete. Er spähte durch den schmalen Schlitz, sah aber keine Bedrohung. Langsam schob er die Tür immer weiter auf, bis er sich einen vollständigen Blick über die Lage verschaffen konnte. Der Gang war leer.
Die Tür zum Nebenzimmer war nur angelehnt. Ein Husten drang aus dem Zimmer.
Aufgeschreckt wie ein junger Hase drückte sich Emma an Bens Rücken. Er griff nach hinten, bekam ihre Hand zu fassen und zog sie mit sich.
Wenn Jens oben war, dann konnten sie auch die Haustür nehmen.
Zusammen eilten sie die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss. Die Tür war schon in Sichtweite, als es über ihnen erneut polterte. Auf das Poltern folgte ein anderes Geräusch. Aber nicht von Oben.
Ein grunzendes Schnarchen. Aus dem Raum direkt neben Emma und Ben.
In schweigendem Entsetzen sahen sich die beiden an. Wie auf Kommando eilten sie los. Sie stürzten zur Tür, rissen sie auf und stürmten ins Freie. Ben konnte die Tür gerade noch festhalten, bevor sie scheppernd ins Schloss fiel. Es kostete ihn einige Überwindung, sie nicht einfach zuzuschlagen, sondern leise zu schliessen.
„Warum brauchst du solange?“, zischte Emma.
„Willst du etwa, dass sie sich fragen, weshalb die Haustür zuknallte, obwohl keiner rein oder raus gegangen ist?“, zischte er zurück.
Vielleicht etwas übervorsichtig, aber nicht ganz unlogisch.
Emma hüpfte von einem Bein auf das andere. Als Ben endlich kam, wirkte das wie ein Befreiungsschlag.
„Nicht rennen. Wir spazieren. Wer rennt, rennt vor etwas davon. Wer geht, hat nichts zu verbergen.“
„Interessante Weisheit. Von deinem Vater?“ Emma wollte ihn nur aufziehen. Ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass das gründlich in die Hose ging.
Sein Ausdruck wurde distanziert und kalt. „Nein.“
Das war alles. Den Rest des Weges schwiegen sie.
Er brachte sie zu ihrem Hotel. Vor dem Eingang zur Bar liess er sie mit einem knappen Kopfnicken stehen. Dann überquerte er die Strasse und wandte sich in Richtung Polizeistation.
Emma erinnerte sich, dort ein gelbes Motorrad gesehen zu haben. War das seins? Die Jacke, die achtlos über den Lenker gehängt worden waren, hatte jedenfalls grosse Ähnlichkeit mit seiner gehabt.
Immerhin, er hatte sie zu ihrem vorübergehenden Heim zurückbegleitet. Wenn auch das Thema Vater wohl ein Fehlgriff gewesen war, Anstand hatte der Mann.
Aber was jetzt? Sie wusste jetzt mehr. Und irgendwie immer noch nichts. Das war unbefriedigend. Nur, was war nun zu tun? Weiter graben? Heim reisen? Je länger sie hier war, desto mehr Fragen taten sich auf und umso weniger Antworten erhielt sie. Das konnte doch nicht sein! Liess Ben das einfach so kalt?
„Wie geht es jetzt weiter?“ Sie rief Ben ihre Frage quer über die Strasse hinterher. Er drehte sich um, sah sie einen Augenblick schweigend an, zuckte mit den Schultern und ging weiter.
Na wunderbar.
Hinter Emma öffnete sich plötzlich die Tür. Eschrocken wandte sie sich um und sah sich mit Liss konfrontiert.
„Wie geht was weiter?“
Dem Glänzen in Liss Augen nach zu urteilen, hatte sie vollkommen falsche Schlüsse
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