Unscheinbar
nahm das Gewehr von der Schulter, schlüpfte mit dem Kopf und einem Arm durch den ledernen Riemen und schnallte es auf den Rücken. Es kam etwas unbequem neben seinem Rucksack zu liegen, aber das war Rudi egal. Er spuckte sich in die Hände, legte sie auf einen kleinen Vorsprung in dem grossen Gestein vor sich, setzte den Fuss auf einen anderen und begann seinen Aufstieg. Immer wieder kam flacheres Gelände, über das man einfach spazieren konnte, doch dann folgten wieder zerklüftet Stellen, die manchmal mehr und manchmal weniger Geschick erforderten.
Der perfekte Lebensraum für eine Gämse eben.
Er hielt konzentriert Ausschau nach den Tieren. Nicht selten entdeckte er eine Herde, aber nie war eine Weisse dabei.
Bis jetzt.
Rudi entdeckte im Augenwinkel eine Bewegung. Er konnte gerade noch etwas Weisses hinter dem Fels verschwinden sehen.
Er hatte sie aufgescheucht.
Mist.
Sofort nahm er die Verfolgung auf.
Da! Da war es schon wieder!
Sie war schnell. Wieder sah er nur ganz kurz den Hinterlauf.
Aber weiter oben musste sie sich zeigen. Da gab es kein Versteck mehr.
In Windeseile zückte Rudi sein Gewehr und machte sich bereit zum Schiessen.
Und tatsächlich, hinter dem nächsten Fels tauchte ein Kopf auf.
Rudi schoss. Blindlings.
Ein Aufstöhnen war zu hören. Dann war es wieder still.
Langsam liess Rudi das Gewehr sinken.
Das war keine Gämse. Eine Gämse stöhnte nicht.
Verdammt!
Egal, was Rudi getroffen hatte, die weisse Gämse war noch irgendwo da draussen. Und er war so nahe dran.
Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, was er angeschossen hatte, eilte er weiter. Immer auf der Spur der Gämse.
Er kam an der Stelle vorbei, an der sein Schuss geendet hatte. Ohne sich darauf zu achten, was dort zwischen den Felsen lag.
Vorangetrieben vom Ehrgeiz geriet er in eine Art Trance. Er sah nur sein Ziel vor Augen. Die weisse Gämse. Sie war zum Greifen nah. Wenn er sie jetzt verlor, war alles verloren.
Vertieft in sein Vorhaben bemerkte Rudi nicht mehr, wie das Gestein immer schroffer wurde. Das Gelände immer unwegsamer.
Von Oben beobachtete er ihn. Er empfand beinahe so etwas wie Mitleid mit dem armen Mann, der dort in den Felsen hing.
Was ein kleines Gerücht so alles bewirken konnte.
Wie leichtgläubig die Menschen doch waren.
Armselige Geschöpfe. Zum Glück gab es davon bald eins weniger.
Nur noch ein bisschen, dann war dieser gutgläubige Mensch weit genug.
Er nahm sich das letzte Utensil für seinen wunderbaren Plan und trat an die Felskante heran.
Rudi kletterte konzentriert weiter. Er überwand eine schmale, tiefe Felsspalte. Im Visier eine Kante, die gerade breit genug war, dass ein Mensch darauf stehen konnte. Von dort aus konnte er sich einen weiteren Überblick verschaffen. Und vor allem konnte er nach der Gämse Ausschau halten. Ein kleiner Sprung, ein Griff nach einem winzigen Felsvorsprung und Rudi landete sicher auf der Kante. Das Gesicht dem Felsen zugewandt. Vorsichtig tastete er die Wand ab. Er suchte nach Halt, der es ihm erlauben würde, sich umzudrehen.
Er fand ihn. Langsam drehte er sich, als auf einmal Dreck und kleines Gestein auf ihn hinunter rieselte.
Die Gämse. Das musste sie einfach sein.
Rudi dachte nicht nach. Er klammerte sich an eine Wurzel, zog sich ein Stück daran hinauf. Wieder bekam er einen Vorsprung zu fassen. Unter den Füssen verlor er den sicheren Halt. Er hangelte sich weiter. Bis es nicht mehr weiter ging. Es waren nur noch wenige Zentimeter, die Rudi von dem Plateau über ihm trennten. Vom sicheren Terrain.
Da hörte er ein Schnauben.
Halluzinierte er?
Gleich darauf rieselten wieder Staub und Steinchen auf ihn hinunter.
Nein. Da war etwas. Direkt über ihm.
Rudi hob den Kopf. Obwohl diese Bewegung ihn ungemeine Anstrengung kostete.
Er erwartete, in das weisse Gesicht einer spöttisch lächelnden Gämse zu sehen.
Und tatsächlich.
Ein Gämskopf starrte ihm entgegen. Aus ausdruckslosen Augen.
Der Wind trug ihm den Geruch nach frischer Farbe und Verwesung zu.
Was für ein kranker Scherz war das?
Bei genauerem Hinsehen, glaubte Rudi den Verstand zu verlieren. Der Gämskopf bewegte sich zur Seite. Rudi erkannte einen einfachen Holzstock, auf dem der Kopf festgemacht war.
Und dahinter tauchte eine Gestalt auf.
Mit der untergehenden Sonne im Rücken war er anfangs nicht mehr als ein Schatten. Ein Schatten, der bedrohlich über Rudi thronte.
Rudis Augen gewöhnten sich allmählich an das Zwielicht. Nach und nach bekam
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