Unscheinbar
Ruder wieder an sich reissen. „Gegenfrage. Wenn du nicht bei Ben warst, was hast du dann bei Alice gewollt?“
„Hoppla, ganz schön direkt.“
„Es ist nun einmal so, dass ich wissen will, weshalb eine Freundin von mir in Gefahr gebracht wird.“
„Das Feuer. Verstehe.“ Emma verstand wirklich. Mara und Alice waren im selben Alter. Beide hatten das Schicksal der Reichs miterlebt. Alice als Angestellte des Hauses Reich hatte sicherlich schwer an den Geschehnissen zu beissen. Dann noch die Schwangerschaft.
Augenblick.
Emma stutzte. Sie brauchte noch einen Moment, um den Gedanken, der ihr soeben gekommen war, in das Puzzle einzufügen.
Mara beobachtete die Veränderung in Emmas Gesichtsausdruck. Ehe sie sich eine Ausrede zurechtlegen konnte, platzte Emma mit ihrer Erkenntnis heraus.
„Die Schwangerschaft. Alice hörte bei den Reichs auf, als sie schwanger wurde. Mit Ben. So ist es doch? Es muss so sein, denn sie hat keine anderen Kinder, stimmt’s? Wann ging sie? Ich wette, sie ging nicht erst, als sie nicht mehr arbeiten konnte. Sie ging, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Das sorgte bestimmt für reichlich Gesprächsstoff, nicht? Eine solche Aktion sorgt in der Stadt schon für Gespräche. Ein Ort wie dieser hier hat sich in den Gerüchten wahrscheinlich gesuhlt.“
Mara versuchte Emma zu unterbrechen. „Du nimmst den Mund reichlich voll für jemanden, der keine Ahnung vom hiesigen Leben hat. Wie kommst du nur auf all diese Dinge?“ Mara schlug einen mütterlichen Tonfall an. Sie liess einen leichten Tadel mitschwingen.
Aber Emma liess sich nicht einwickeln. Sie beugte sich zu Mara vor und behielt sie fest im Auge. „Eure Reaktionen. Die allererste Reaktion von Ben und Alice, als ich erwähnt habe, dass ich von einem gewissen Martin beauftragt wurde.“
Es war kaum zu sehen. Aber Emma entging es nicht. Da war es wieder. Dieses kleine Aufflackern einer Emotion.
„Ich habe also Recht. Ben wurde wütend. Alice bekam einen sehnsüchtigen Gesichtsausdruck und bei dir ist es das Mitgefühl der Mitwisserin. Mara?“
Sie schwieg. Aber man konnte ihr ansehen, dass sie nicht mehr still sein wollte.
Emma fuhr fort. „Es gibt im ganzen Haus keine Fotos. Das kannst du nicht leugnen. Ich habe es selbst gesehen. Darum frage ich dich: Wer ist Bens Vater?“
Mara sog scharf die Luft ein.
Richtige Frage. Emma wartete.
„Alice hat es nie gesagt.“ Mara klang, als hätte sie mit diesen Worten einen Verrat an ihrer Freundin begangen. Wahrscheinlich hatte sie das in gewisser Weise auch.
Auf einmal empfand Emma Reue darüber, Mara zum Reden genötigt zu haben. Obwohl das absurd war. Mara hätte die Auskunft auch einfach verweigern können. Dennoch fühlte sich Emma mies. Aber nicht mies genug. „Was meinst du damit?“
Mara wirkte müde. „Das, was ich sage. Niemand, und ich meine niemand, weiss wer Bens Vater ist. Auch Ben nicht.“
„Nur Alice.“
„Nur Alice“, bestätigte Mara. „Aber die hütet ihr Geheimnis schon ihr Leben und einige Tragödien lang. Da wird sie es jetzt kaum ausplaudern. Aber warum ist das alles für dich von Interesse? Warum wolltest du mit Alice sprechen? Dass du auf sie als Auskunftsperson gekommen bist, ist nicht weiter verwunderlich. Schliesslich ist ihre Verbindung zu den Reichs ein offenes Geheimnis. Doch weshalb verlangst du nach diesen Infos? Du sagtest, dein Auftrag sei die Begutachtung des alten Grundstücks. Das hast du ja offensichtlich getan. Du musstest wie von uns angekündigt feststellen, dass dort oben nichts mehr ist, ausser die Geister der Vergangenheit. Auftrag ausgeführt. Aber warum bist du dann noch hier? Warum reisst du bei den Leuten alte Wunden auf, indem du all diese Erinnerungen weckst?“ Schmerz spiegelte sich in Maras Augen.
„Es tut mir Leid. Aufrichtig. Das kannst du mir glauben. Aber jetzt stecke ich selbst mit drin und das schon zu tief, als dass ich jetzt aufhören könnte.“
„Inwiefern?“
„Wie Kugel vorhin sagte. Unfall, Steinlawine, Erschlagen, Feuer. Die unspektakulärste Begegnung war die mit der Heiligen Jungfrau, aber dennoch, es gab sie. Ich war also bei allen vier Ereignissen involviert, und das nehme ich persönlich. Es lässt sich alles plausibel erklären. Das ist mir klar. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Bisher glaubte ich, ich war immer nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Langsam habe ich aber das Gefühl, da steckt mehr dahinter. Vielleicht stochere ich zu sehr in alten Wunden herum. Wer
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