Unscheinbar
der Schatten ein Gesicht.
Als er es erkannte, atmete er erleichtert auf. „Du bist es! Komm, hilf mir mal!“
Schweigend, fast überheblich sah er auf Rudi hinunter. Das gewohnte Gefühl der Macht durchströmte ihn. Die Entscheidung lag in seinen Händen. Leben oder Tod.
Doch das Urteil war schon viel früher gefallen. Längst war klar, was geschehen würde. Was geschehen musste.
Er legte sich hin. Dann griff er nach Rudis Handgelenken. Dieser sah ihm dankbar in die Augen.
Rudi war bereit loszulassen. Er war bereit, seine Hände um die Gelenke seines Retters zu legen und sich gemeinsam mit ihm hochzuziehen. Sich in Sicherheit zu bringen.
Er hielt Rudis Blick genauso fest, wie die Handgelenke.
Er wollte keine Sekunde davon verpassen, wie sich Rudis Ausdruck verändern würde, wenn er erkannte, was vor sich ging.
Er liess einen der Arme los.
Sofort weiteten sich Rudis Augen erschrocken. Er krallte sich so fest er konnte in den Fels. Er rutschte ab. Seine Fingernägel brachen. Rotes Blut quoll darunter hervor und vermischte sich mit dem braunen Schmutz der Erde.
Aber Rudi stürzte nicht. Die zweite Hand hielt ihn sicher fest.
Verzweifelt suchte Rudi wieder nach Halt. Und fand ihn.
Retten konnte ihn das aber nicht mehr.
Immer noch hielt er Rudis Augen fest. Wie sich aus Angst die Pupillen erweiterten war einfach zu schön.
Er zog das rote Halsband aus der Tasche, steckte es rasch in die Ärmeltasche von Rudis Jacke. Dann griff er erneut nach dem Handgelenk. Diesmal wartete er nicht mehr.
Er konnte nicht. Er zog Rudi ein wenig nach oben, um den Spassfaktor zu erhöhen.
Die Verwirrung stand Rudi ins Gesicht geschrieben. Genauso wie der erneut aufglimmende Hoffnungsschimmer.
Genau das hatte er sehen wollen. Seine Mundwinkel verzogen sich langsam zu einem bösartigen Lächeln. Die Zeit war gekommen. Zu verhindern, dass Rudi sich noch einmal festhalten konnte, war ganz einfach. Nur ein kleiner Ruck und Rudi hatte den Halt endgültig verloren.
Die Erkenntnis leuchtete in Rudis Augen auf. Gleich darauf kam das Entsetzen.
Er liess Rudis Handgelenke los
Die Gesichtszüge vor Schreck verzerrt stürzte Rudi in die Tiefe.
Er schlug hart auf den Felsen auf. In unnatürlich verdrehter Körperhaltung blieb Rudi liegen. Und rührte sich nicht mehr.
Strang 2 / Kapitel 18
Ein Jägersmann ohne Skrupel und Respekt vor Mensch und Tier machte sich eines Tages auf den Weg, seinen hundertsten Gämsbock zu schiessen. Von den weissen Gämsen hatte er gehört, aber noch nie eine gesehen. Bis zu diesem Tag. Als der Jäger Rast machte, entdeckte er den weissen Bock. Sofort nahm der Jäger die Verfolgung auf. In seinem Wahn verstieg er sich aber entsetzlich, bis er nicht mehr vor und nicht mehr zurück konnte. Die Gämse war weg. Der Abgrund lag vor ihm. Da erkannte der Jäger seine missliche Lage. Aber es war zu spät. Er wurde zunehmends schwächer, bis er sich schliesslich unter geisterhaftem Geflüster in sein Schicksal ergeben musste. Er stürzte in die Tiefe. Ein Sturz, den keiner überlebt. So auch nicht der Jägersmann.
Lächelnd sah er zu ihm hinunter.
Ruhe in Demut, Rudi. Auf das deine perverse Art, Lebewesen zu quälen sich im Tode räche und ihn zu deiner persönlichen Hölle mache. Dann wandte er sich ab. Er sammelte den weiss angemalten Kopf der Gämse und den weissen Geissenfuss ein und machte sich an den Abstieg. Irgendwo unterwegs warf er seine Utensilien in eine tiefe, dunkle Felsspalte. Dort würden sie nie wieder ans Tageslicht kommen. Da war er sich sicher.
Rudi wurde erst eine Woche später gefunden, nachdem Ruth darauf bestanden hatte, ihn suchen zu lassen.
Über seinen Tod sagte man, er hätte sich beim Versuch, die weisse Gämse zu erlegen, in unwegsamem Gelände verirrt und sei abgestürzt.
Unter seinen Habseligkeiten fand man unter anderem ein rotes Hundehalsband. Es gehörte dem Rüden Seppi, der auf unerklärliche Weise zum gleichen Zeitpunkt verschwunden war wie Rudi.
Niemand fand das weiter verdächtig. Auch Ruth nicht. Es erfüllte sie nur mit tiefer Trauer und einem nie gekannten Hass Rudi gegenüber.
Niemand zweifelte noch daran, dass Rudi Seppis Mörder war.
Alle waren sich einig.
Und alle irrten sich.
Strang 1 / Kapitel 21
„Und mein besonderer Freund? Wie passt er in die Geschichte?“ Emma war vollkommen in Maras Erzählung aufgegangen. Darüber hätte sie beinahe den Grund für die Geschichte vergessen.
„Erinnerst du dich, dass Rudi einen
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