Unschuldslamm
seine Jeans aufgemacht und ihre Hand in seine Boxershorts geschoben. Derya bekam Gänsehaut, als sie daran dachte, und musste grinsen. Sie warf einen Blick auf die Anzeigentafel. Die S 5 nach Strausberg kam in acht Minuten. Gut so. Die S-Bahn in die Gegenrichtung war gerade durch, und die zwei Leute, die auch auf dem Bahnsteig gestanden hatten, waren eingestiegen. Derya hatte echt Schiss. So spät war sie noch nie allein unterwegs gewesen. Aras würde ausflippen. Sie sah sich auf dem Bahnsteig um. Am anderen Ende standen noch drei Typen, Ausländer. Russen oder Albaner oder so was. Mit schwarzen Lederjacken und diesen schlimmen Billigjeans. Ihr war unwohl, aber die drei waren miteinander beschäftigt, sie hatten noch nicht einmal zu ihr rübergeguckt. Derya hätte sich wohler gefühlt, wenn Vali noch bei ihr gewesen wäre. Aber die Mutter hatte Derya alleine losgeschickt, ihr Valentin sollte so spät nicht mehr raus. Was für eine Ziege. Aber ein Mädchen ließ sie nachts einfach so auf die Straße! Valis Mutter hatte gesagt, dass in ihrer Gegend die Straßen sicher wären, und Derya könnte die paar Meter zur S-Bahn auch alleine laufen. Und Vali hatte natürlich nicht widersprochen. Typisch. Er war süß, aber echt ein Hosenscheißer, was seine Mutter betraf. Das hatte er von seinem Vater, der traute sich auch nichts, wenn die Alte in der Nähe war. Derya hatte ihn gefragt, ob er sie zur S-Bahn bringen könnte, aber der Typ hatte nur zu seiner Frau geschaut, und die hatte den Kopf geschüttelt.
Derya dachte an ihren Vater. Der hätte keinesfalls ein junges Mädchen nachts auf die Straße gehen lassen. Er hätte sie in ein Taxi gesetzt oder ihr ein Gästebett herrichten lassen. Und hätte sich niemals von seiner Frau dabei reinreden lassen.
Jetzt sah Derya weit hinten die gelben Augen der nahenden S-Bahn, wie die lieben Augen des weißen Glücksdrachen Fuchur aus der »Unendlichen Geschichte«, die sie so gerne gelesen hatte. Die Angst fiel von ihr ab, und Derya wusste, dass sie gleich in Sicherheit und bald zu Hause sein würde. Da fasste ihr von hinten jemand an die Schulter. Derya drehte sich um und war überrascht.
B ERLIN- M OABIT, O LDENBURGER S TRASSE,
J ANUAR, KURZ NACH M ITTERNACHT
Ruth kuschelte sich noch enger in die weiche Fleecedecke und legte den Kopf auf das Sofakissen. Sie würde heute schlecht einschlafen, der Tag im Gericht hatte sie total mitgenommen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Der nächste Verhandlungstag war eine Woche später, und sie fürchtete sich ein bisschen davor. Heute hatte der Staatsanwalt seine Anklageschrift verlesen. Er war ein sportlicher Mittfünfziger, Hannes Sowieso, mit eisgrauem kurzen Haar, und Ruth hatte gegrübelt, ob er der Rowdyfahrer des SUVs gewesen war, dem sie die Flecken auf ihrem Mantel zu verdanken hatte. Jedenfalls war er der gleiche Typ. Ein völlig von sich überzeugter Obermacho. Er wollte Aras Demizgül hinter Gitter bringen, und zwar so schnell wie möglich. Zweifel waren unangebracht.
Der Verteidiger des jungen Mannes hingegen, ein Landsmann von Aras offenbar, war total zurückhaltend, schien aber nicht unglücklich über den Verlauf des ersten Verhandlungstages. Ab und zu blickte er in seine Unterlagen und schüttelte bei jedem zweiten Wort des Staatsanwalts lächelnd den Kopf. Mit dem Angeklagten wechselte er kaum ein Wort, was wohl auch daran lag, dass der sich vorgenommen zu haben schien, nur das Nötigste von sich zu geben. Aras Demizgül hatte, so viel war selbst Ruth bei all dem juristischen Kauderwelsch klargeworden, die Tat nicht gestanden. Er schwieg zu den Vorwürfen, er schwieg zum Tathergang, er schwieg bei der Vernehmung durch die Polizisten, die ihn verhaftet hatten. Er bestätigte lediglich die Angaben zur Person. Das war auch eines der wenigen Male, dass er den Kopf hob. Er hatte einmal aufmerksam alle Anwesenden gemustert und kurz seinen Blick mit dem von Ruth gekreuzt. Aber dieser Sekundenbruchteil, als sie in die Augen von Aras Demizgül geblickt hatte, war Ruth durch Mark und Bein gefahren. Der Blick aus seinen schwarzen Augen war so tief und voller Trauer gewesen. Sie wollte nicht glauben, dass ein Mörder so unendlich betrübt sein könnte.
Natürlich war Ruth klar, dass das völlig naiv war. Jeder, der beruflich mit Straftätern zu tun hatte, würde sie auslachen. Sie sehen also am Blick, ob jemand schuldig ist oder nicht? Na, herzlichen Glückwunsch, wenn das so einfach wäre …
Ruth seufzte und goss sich noch
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