Unschuldslamm
einen kleinen Schluck von dem Bordeaux ein, den sie sich heute geöffnet hatte. Ein schwerer Wein, der eigentlich immer auf eine besondere Gelegenheit gewartet hatte. Ein vielversprechendes Rendezvous etwa. Stattdessen »feierte« sie heute mit ihm die Teilnahme an einem Mordprozess. Einem Prozess, den weder sie und erst recht nicht Aras Demizgül unbeschadet überstehen würde.
B ERLIN- M OABIT, B OCHUMER S TRASSE,
J ANUAR, EINEN T AG SPÄTER, ELF U HR VORMITTAGS
Ruth hobelte die Scheiben der Konstantinopler Apfelquitte mit einer Verve, dass ihre Fingerkuppen akute Gefahr liefen, ebenfalls der Aufschnittmaschine zum Opfer zu fallen. Jamila, die neben ihr stand und mit der Hand in liebevoller Kleinarbeit aus Kartoffeln Pommes frites schnitt, sah dann und wann beunruhigt zu ihrer Chefin hinüber. Eine Bemerkung verkniff sie sich wohlweislich. Ruth hatte heute Morgen schon eine dicke schwere Wolke über ihrem Kopf mit ins Geschäft gebracht, und weder der gesüßte Chaitee noch der Café au Lait, von Jamila jeweils mit einem Witz und einem Wangenküsschen serviert, hatten diese vertrieben. Stumm hatte Ruth ihre Arbeit verrichtet und mit ihrer besten Freundin nur das Notwendigste gesprochen.
Jetzt schaltete sie die Höllenmaschine, durch die sie die gelben Früchte gejagt hatte, ab und begann, braunen Zucker in drei Tarteformen zu streuen. Dann schichtete sie die hauchdünnen Quittenscheiben darüber, in perfekter Fächerformation. Währenddessen sprach Ruth kein Wort, sie stierte vor sich hin. Die Arbeit, die sie sorgfältig und akkurat erledigte, war es aber nicht, die sie so konzentriert aussehen ließ, vielmehr war sie tief in Gedanken versunken. Sie ließ den Verhandlungstag noch einmal Revue passieren.
»Gleich geht der Mittagstrubel los«, begann Jamila vorsichtig ein Gespräch.
Ruth nickte bloß.
»Aber vielleicht ergibt sich später ja mal eine Gelegenheit«, tastete sich Jamila behutsam vor, »dass du mir erzählst, wie es gestern war.«
Keine Reaktion von Ruth. Mechanisch verteilte sie die Quittenscheiben in die weißen Steingutformen. Scheibe auf Scheibe, im immer gleichen Abstand. Wie Schneckenhäuser drehten sich die perfekten Quittenspiralen auf die Mitte zu.
»Ruth?« Jamila berührte die Freundin leicht am Arm. Ruth zuckte zusammen und sah auf. Sie war mit ihren Gedanken weit weg gewesen.
»Hast du mich nicht gehört?«, erkundigte sich die Marokkanerin mit einem sanften Lächeln. Ruth schüttelte die blonden Spirallocken.
»Nein. Tut mir leid.«
»Schon gut.«
Jamila wischte sich die Hände an ihrer Kochschürze ab und griff zu ihrer Teetasse. Ruth roch den aromatischen Duft von Zimt und Honig, der sich mit der fruchtigen Säure der von ihr gehobelten Quitten perfekt verband. Das machte ihre kleine Küche zu einem wohligen Ort, weit weg von der kalten Januarwelt da draußen und noch weiter entfernt von dem grausamen Ort, an dem sie am Vortag gewesen war. Von dem sie in der Nacht geträumt hatte und an den sie seit dem Aufwachen wieder hatte denken müssen. An den Ort, an dem ein junges und lebendiges Mädchen brutal niedergestochen worden war. Mit dreiundzwanzig Messerstichen, von denen erst der letzte, ein tiefer Schnitt durch die Kehle, tödlich gewesen war. Ruth schüttelte sich.
»Ich habe gefragt, ob du mir von gestern erzählen möchtest.«
Sofort und ohne dass sie Kontrolle darüber hatte, stiegen Ruth die Tränen in die Augen. Sie wollte nicht darüber reden. Sie wollte nicht noch einmal ausbreiten, was sie gestern im Gerichtssaal hatte anhören müssen. Die Polizisten, die als Erste am Tatort gewesen waren. Die Rettungssanitäter, die versucht hatten, zu retten, was von Derya noch zu retten war. Der Gerichtsmediziner, der die Leiche der Sechzehnjährigen untersucht hatte.
Jamila stellte sofort die Teetasse ab und fasste Ruth leicht an die Schulter.
»Sorry, Liebes. Ich wusste nicht … So schlimm?«
Ruth schniefte und schnäuzte geräuschvoll in ein Stück Küchenrolle.
Susan streckte den Kopf zur Tür rein.
»Zweimal Consommé, ein Steak frites und … Oh!«
Susan, die Studentin, die mittags im Service aushalf, bemerkte erst jetzt Ruths Tränen und sah verunsichert zu Jamila.
»Ich wollte nur fragen, ob ihr schon so weit seid, eigentlich ist es ja noch zu früh …«
Aber ihre Chefin hatte sich wieder im Griff und nickte der jungen Frau zu. »Schon okay. Wenn sich die Gäste noch zehn, fünfzehn Minuten gedulden, dann rollt alles an.«
Die Studentin grinste schief,
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