Unschuldslamm
er sich ohne Zweifel hier draußen auf der handgeknüpften Manufactum-Fußmatte holte.
Plötzlich wurde die Tür hinter ihrem Ex-Mann mit einem Ruck geöffnet. Mona trat hinter Johannes, die kleine Joanna auf dem Arm. Ganz die besitzergreifende Übermutter. Alles meins, sagte ihre Erscheinung aus. Mein Haus, mein Mann, mein Kind.
»Komm doch rein, Ruth«, lächelte sie breit, aber ihre Augen signalisierten ›Bleib bloß weg‹.
Mona war Ende zwanzig gewesen, als sie sich Johannes geangelt hatte. Die ehrgeizige Fotografin den arrivierten Journalisten. Jetzt war sie zehn Jahre älter und Mutter, aber das hatte ihr nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Sie war noch schöner geworden. Reifer, voller, selbstbewusster. Sie stand aufrecht hinter ihrem Mann, und es schien, als sei sie mindestens zehn Zentimeter größer als er. Ihre dunklen vollen Haare fielen unfrisiert bis in das üppige Dekolleté, sie trug einen lockeren Hausanzug aus Frottee, der so teuer und lässig geschnitten war, dass sie darin hätte in die Oper gehen können. Ruth dagegen wirkte in einem Frotteeanzug wie ein Wischmopp. Nein, wie ein ausgestopfter Wischmopp. Dennoch ließ sie sich von Monas starker Präsenz nicht beeindrucken, denn Ruth wusste sehr wohl, dass deren zur Schau gestellte Dominanz nichts anderes war als Unsicherheit der Frau gegenüber, mit der Johannes eine Vergangenheit hatte – und zwei wunderbare große Kinder.
»Schon gut, danke«, entgegnete Ruth mit strahlendem Lächeln, »aber ich bin noch verabredet.«
Sie wandte sich wieder an Johannes und nickte ihm zu. »Demizgül. Vergiss es nicht.«
»Ich mail’s dir«, antwortete ihr Ex, bevor er hinter seiner jungen Familie in sein schickes schmales Häuschen schlüpfte und die Tür hinter sich schloss. Nicht ohne Ruth noch einen kurzen Blick hinterhergeworfen zu haben.
Ruth kuschelte sich tiefer in ihren weiten Wollmantel und ging ein paar Schritte in Richtung U-Bahnhof. Doch dann zögerte sie. Sie war so lange schon nicht mehr in der Ecke gewesen, vielleicht sollte sie ein paar Schritte durch die Gegend bummeln. Seit sie das »La Paysanne« eröffnet hatte, kam sie so gut wie gar nicht mehr raus aus Moabit. Und außer einer einzigen Stippvisite, kurz nach der Geburt von Joanna, hatte Johannes ihr keine Gelegenheit gegeben, ihn in seinem neuen Zuhause zu besuchen. Sie hätte es auch nicht gewollt. Annika war dagegen häufiger Gast bei der neuen Familie ihres Vaters, sie verstand sich gut mit Mona und hütete manchmal das Baby. Von wegen Kosten für den Babysitter, dachte Ruth abfällig. Sie lenkte ihre Schritte in Richtung Strelitzer Straße und ging über das abschüssige Kopfsteinpflaster auf die Elisabeth-Kirche zu, die heute als Veranstaltungsort und Kindergarten genutzt wurde. Noch war es hier, im Hinterzimmer von Mitte, ruhig und beschaulich, es gab nur wenige Läden und Restaurants. Aber kaum hatte sie die Invalidenstraße überquert und war in die Ackerstraße eingebogen, änderte sich das Bild schlagartig. Kneipen, Restaurants, Designer Show Rooms, eine Schokoladenmanufaktur – dicht an dicht drängten sich die Läden und darin die Menschen. Hinter jeder Scheibe trinkende, lachende, sich unterhaltende Leute jeden Alters. Sie alle hatten jedoch eins gemeinsam: Sie konnten es sich leisten, ihr Geld für abendliche Vergnügungen auszugeben. Was man von einem Großteil der Menschen in ihrem Stadtbezirk nicht sagen konnte. Die Kneipendichte in Moabit war weniger hoch als hier in den Boombezirken, und von den neueröffneten Läden setzten sich nur wenige durch. Die alten Kneipen dagegen schlossen eine nach der anderen. Sie hatte Glück gehabt, dass sich ihr kleines französisches Bistro in der strukturschwachen Gegend durchgesetzt hatte, dachte Ruth dankbar und wandelte an den hell erleuchteten Fenstern vorbei. In der Sophienstraße schließlich kamen ihr Horden von Touristen entgegen, Japaner, Spanier, Amis. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie in den Läden, die sie passiert hatte, kaum Ausländer gesehen hatte. Nur wenige nicht-deutsche Gesichter, schon gar keine Türken oder Araber. In Mitte blieb man unter sich. Ob Derya Demizgül jemals hier gewesen war? Die Berliner, und auch die Einwanderer, waren in der Regel ihrem Kiez treu. Die Welt der Moabiter reichte allenfalls vom Hauptbahnhof bis zum Schloss Charlottenburg. Vom Hansaplatz bis zum Westhafen. Was hatte die junge Kurdin dann in den alten Westen getrieben, damals, an dem Samstag im August, fragte sich Ruth. Derya
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