Unschuldslamm
Schwierigkeiten zu bringen. Er hatte sie auch in Schwierigkeiten gebracht, hatte sie einfach sitzenlassen. Ohne Job. Mit zwei Kindern. Da war es nur recht und billig, wenn er ab und an etwas ins Schwitzen geriet.
Das Kleinkind quengelte nicht länger, sondern begann, wie am Spieß zu schreien. Ruth hörte Mona ungeduldig stöhnen, dann wurde eine Tür zugeschmissen, das Brüllen war aber auch locker durch den Schalldämpfer zu hören. Neugierig versuchte Ruth, einen Blick in die Wohnung zu werfen. Durch den hell erleuchteten Flur des Townhouses mit den großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien konnte Ruth einen flüchtigen Blick ins Wohnzimmer werfen. Auf der kakaofarbenen Ledercouch lagen Kinderbücher, eine Kuscheldecke und eine Plastiktasse mit dem Grüffelo darauf. Untrügliche Indizien dafür, dass die Zeremonie des Insbettbringens von langer Hand vorbereitet worden und nichtsdestotrotz misslungen war.
Johannes zog die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu, damit Ruth nicht länger in die Wohnung hineinsehen konnte. Er trug lediglich Socken, wie Ruth belustigt feststellte.
»Ich hab den Unterhalt Ende Dezember überwiesen. Müsste längst auf deinem Konto sein«, versuchte er, seine Ex-Frau abzuwimmeln.
»Mal ganz davon abgesehen, dass das Geld für die Klassenfahrt gefehlt hat und du außerdem schon wieder für den Januar blechen müsstest …«
»Ich kann gerade nicht«, unterbrach Johannes sie. »Ich bin ein bisschen klamm. Joanna … der Babysitter, du weißt doch, was das alles kostet.«
Nervös strich er sich die Haare zurück. Am Kinn waren die Stoppeln seines Fünftagebartes schlohweiß.
Ruth konnte sich nicht zurückhalten. »Ich weiß, was ein kleines Baby kostet. Aber du hast offenbar keinen Schimmer, was zwei erwachsene Kinder kosten.«
Sie war eigentlich nicht wegen des Geldes hier. Sie hatte auf keinen Fall streiten wollen. Im Gegenteil, Ruth hatte sich auf dem Weg sehr genau überlegt, wie sie Johannes davon überzeugen wollte, ihr zu helfen. Sie hatte Kreide gefressen, aber das hatte nichts geholfen. Sie und Johannes, einst ein Herz und eine Seele, stritten sich, sobald sie sich sahen.
Johannes senkte die Stimme. »Es läuft grad nicht so gut. Bitte, Ruth. Sag, was du willst, und dann …«
›Zieh Leine, wolltest du sagen, aber das traust du dich dann doch nicht‹, dachte Ruth und spürte einen Anflug von Traurigkeit. Sie fragte sich einen kurzen Moment, ob es richtig war, ausgerechnet zu Johannes zu laufen, aber nun, wo sie schon einmal hier war, musste sie die Sache auch durchziehen. »Ich brauche deine Hilfe für eine Recherche.«
Johannes starrte sie an, hin- und hergerissen zwischen Erleichterung, weil es nicht um Geld ging, und Ängstlichkeit, weil er ihr Ansinnen nicht einordnen konnte.
»Ich bin Schöffin«, konkretisierte sie und fuhr schnell fort, bevor Johannes sie wegschicken konnte. »Ich bin zu einem Mordfall eingeteilt, Schwurgericht, und möchte ein bisschen mehr darüber wissen.«
Er verstand kein Wort von dem, was sie gesagt hatte. Ungewöhnlich für Johannes, der, das immerhin musste Ruth ihm zugestehen, sonst immer sehr schnell im Kopf war. Und selbst wenn er nicht verstanden hätte, worum es ging, verstand er es stets, das zu überspielen. Er war schließlich Journalist, das war sein Job. Und er war keiner von den schlechten. Aber jetzt schien der Groschen außergewöhnlich langsam zu fallen. Es lag entweder am Alter oder am Stress. Kleines Kind, junge Frau, Stress im Job – Johannes war nicht mehr der Alte. Er sah sie an und fragte etwas blöde: »Schöffin? Warum?«
Ruth wischte die Frage ungeduldig beiseite. Es wurde ungemütlich hier vor der Tür in der Kälte. Das ganze Unterfangen hatte sich als komplizierter erwiesen als gedacht. Anstatt sie hereinzubitten, ihr einen Schluck Wein anzubieten und die Dateien auszudrucken, die sie brauchte, standen sie sich in der Dunkelheit des ehemaligen Mauerstreifens in der bitteren Januarkälte gegenüber und zickten sich an. Dass sie sich auch hätte ankündigen können, kam Ruth in dem Moment gar nicht in den Sinn.
»Derya Demizgül. Die junge Kurdin. Stichwort »Ehrenmord«. Ich brauche alles darüber.«
»Aber fragen darf ich nicht?!« Jetzt lächelte er fast. Sie hatte seinen journalistischen Instinkt mit ihrer Bitte angesprochen, Johannes wähnte sich auf sicherem, weil professionellem Terrain. Und schon konnte er beinahe höflich sein. Ruth nahm wahr, wie er sich entspannte – trotz der kalten Füße, die
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