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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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zu bestrafen. Väter, die ihre Töchter züchtigen. Brüder, die ein Mädchen steinigen.«
    Ruth nickte. Das, was Jamila über ihr Land sagte, hätte auch sie selbst sagen können. Es gab auch in Deutschland Männer, die ihre Kinder wie Tiere im Keller hielten. Es gab menschliche Abgründe, mit denen Ruth sich nicht auseinandersetzen wollte. So etwas war in ihrer Welt nicht vorgesehen, und nun war sie dem doch ganz nah gekommen. Warum sollte Aras D. nicht seine Schwester getötet haben und danach trotzdem zusammengebrochen sein? Vielleicht war er in einem Blutrausch, war nicht mehr bei sich gewesen, und erst nachher, als Derya wirklich tot war, war er angesichts seiner eigenen Tat verzweifelt? Natürlich war das möglich. Das war auch das, worauf der Staatsanwalt abzielte. Die beiden Polizisten, die als Erste am Tatort gewesen waren, waren gestern befragt worden. Sie hatten beide ausgesagt, dass sie angesichts der abgrundtiefen Verzweiflung von Aras D. zu keinem Zeitpunkt geglaubt hatten, dass er als Täter in Frage komme. Aber dieser alerte Staatsanwalt Eisenrauch hatte die beiden so geschickt befragt, dass zum Schluss rein theoretisch die Möglichkeit bestanden hatte, Aras D. hätte seine Schwester Derya in dem Gebüsch erstochen und dann selbst den Notruf abgesetzt. Er hätte sie aus dem Gebüsch auf den Bürgersteig zerren und so tun können, als hätte er das Mädchen gefunden.
     
    Auszug aus dem Protokoll der Vernehmung des Zeugen PHW Hans Seltsam, am 9. Januar um 14.10 Uhr im Landgericht Moabit, Saal 500
    STAATSANWALT: Halten Sie das für möglich?
    Der Zeuge Hans S. überlegt, bevor er antwortet: Ja. Doch. Möglich ist das schon.
    STAATSANWALT: Keine weiteren Fragen an den Zeugen.
    »Du glaubst also nicht an seine Schuld?«, fragte Jamila.
    Ruth scheute sich, das einfach so zu bejahen. Die Ermittlungen zu dem Fall waren schließlich abgeschlossen. Die Polizei hatte ihre Arbeit getan, und es war davon auszugehen, dass sie sie ordentlich getan hatte. Die Staatsanwaltschaft, der Anwalt von Aras – alle hatten fast ein halbes Jahr Zeit gehabt, sich mit der Aufklärung des Mordes zu beschäftigen. Die meisten waren überzeugt, dass die Indizien Aras belasteten und ihn als Mörder seiner Schwester auswiesen. Sogar der Anwalt des Angeklagten plädierte auf Freispruch, weil die Indizien nicht ausreichten, um Aras zu belasten. Das sah fast schon nach einem Schuldeingeständnis aus. Und nun kam sie, Ruth Holländer, hörte sich vier Stunden lang an, was die ersten Zeugen zu sagen hatten, und kam zu dem Schluss, dass alles ganz anders war, dass sich alle, die sich mit dem Fall befasst hatten, täuschten. Sie wagte nicht, das auszusprechen.
    »Ich will es nicht glauben«, antwortete sie ausweichend.
    »Und was machst du damit? Als Schöffin?« Jamila sah sie prüfend an.
    Ruth holte tief Luft, streckte den Rücken durch und sprach aus, was sie bis jetzt noch nicht einmal gedacht hatte.
    »Weiß ich noch nicht. Aber ich geh nicht wieder so unvorbereitet in die nächste Verhandlung.«
    B ERLIN- M ITTE, B ERNAUER S TRASSE,
EIN M ONTAG IM J ANUAR, KURZ VOR ZWANZIG U HR
    »Ruth?«
    Die Überraschung stand Johannes ins Gesicht geschrieben, und sofort blickte er sich ängstlich über die Schulter.
    »Was willst du denn?«
    Er machte nicht einmal Anstalten, ihr die Tür zu öffnen und sie hereinzubitten.
    Im Hintergrund hörte Ruth das ungeduldige Zetern eines übermüdeten Kleinkindes.
    »Wir bringen Joanna gerade ins Bett, es ist jetzt echt ungünstig.«
    »Wir?«, konnte sich Ruth nicht verkneifen, »doch wohl eher deine Frau.«
    Wieder blickte sich Johannes nervös über die Schulter.
    Er sah schlecht aus, stellte Ruth befriedigt fest. Die grauen Haare, die er sich verwegen bis in den Nacken wachsen ließ, lichteten sich deutlich. Er war verschwitzt und roch nach Wein, der Teint, auf dessen leichten Olivton er sich immer so viel eingebildet hatte, war teigig und wirkte im matten Flurlicht eher grünlich.
    ›Er setzt Moos an‹, dachte Ruth und feixte innerlich.
    »Johannes, komm doch mal bitte«, hörte Ruth die Stimme von Mona. Das Kleinkind quengelte noch immer.
    Johannes öffnete den Mund, um seiner Frau etwas zu entgegnen, aber Ruth kam ihm zuvor.
    »Ich bin’s, Mona. Ruth! Bin gleich wieder weg, sorry, wenn ich störe«, rief sie in die Wohnung hinein.
    Mona antwortete nicht sofort, und Johannes riss missbilligend die Augen auf und schüttelte leicht den Kopf. Ruth grinste ihn breit an. Ihr gefiel es, ihn in

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