Unschuldslamm
Warum liest du das?«, fragte sie ihre Mutter.
»Das ist der Fall, dem ich als Schöffin beiwohne.«
Annika lehnte sich in ihrem Stuhl weit zurück.
»Scheiße.«
Dem war nichts mehr hinzuzufügen, fand Ruth.
Nach einer Schockminute stand Annika auf, holte sich eine große Schüssel, die sie bis zum Rand mit Früchte-Müsli füllte, goss Milch dazu und balancierte das übervolle Gefäß zum Tisch.
»Erzähl mal«, forderte sie Ruth auf.
Tatsächlich hatten Ruth und Annika sich seit dem Verhandlungstag nur noch zwischen Tür und Angel gesehen, es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, Annika zu erzählen, dass das Schicksal eigenartige Pirouetten drehte und ausgerechnet sie zu Deryas Fall als Schöffin eingeteilt worden war.
»Ich darf nicht über den Fall reden«, lenkte Ruth ein und schob sofort hinterher: »Aber wir können uns über Derya unterhalten.«
Annika lugte kritisch über den Rand der überdimensionierten Schüssel, runzelte die Augenbrauen und schlürfte die Milch vom Löffel. »Schwachsinn. Du darfst doch wohl mit deiner Tochter reden.«
Ruth lächelte. »Solange das Verfahren nicht abgeschlossen ist, darf ich mit niemandem reden. Nicht über das, was im Gerichtssaal verhandelt wird, jedenfalls. Und mit dir schon gar nicht, schließlich erzählst du es brühwarm deinen Freunden, und die wiederum …«
Annika wollte protestieren, aber Ruth bremste sie sofort.
»… und dann geht das in der ganzen Schule rum. Komm, Süße, ich weiß genau, wie das ist. Es ist auch zum Schutz der Angeklagten. Aber natürlich können wir uns über Derya unterhalten.«
Annika sah nicht aus, als wäre sie begeistert. Ruth war sich auch nicht sicher, ob es gut war, die Sache noch einmal aufzuwärmen. Als die junge Kurdin starb, war Annika fünfzehn gewesen, und der gewaltsame Tod der Mitschülerin hatte ihre Tochter sehr mitgenommen. Vielleicht sollte sie abwarten, ob Annika von selbst darüber sprechen wollte. Diese schaufelte ihr Müsli in sich hinein und warf dabei wieder einen Blick auf die auf dem Tisch ausgebreiteten Artikel. Auch Ruth widmete sich der Lektüre. Gute zehn Minuten herrschte Stille in der gemütlichen Wohnküche, man hörte lediglich das Ticken der großen alten Bahnhofsuhr. Ein schmaler Sonnenstrahl hatte es geschafft, sich durch den grau bewölkten Himmel zu kämpfen, und warf einen gelben Streifen helles Licht auf den Tisch. Und auf die deprimierenden Zeitungsartikel.
Annika ließ klappernd den Löffel in die nunmehr leere Müslischüssel fallen.
»So ein Scheiß«, sagte sie und tippte missbilligend auf einen Artikel aus dem »Berliner Kurier«.
»Die schreiben alle, dass ihre Familie voll streng gläubig und traditionell gewesen wäre. Und sie hätte unter der Fuchtel gestanden und keine Freiheiten gehabt und so. Das ist einfach voll der Scheiß.«
Ruth erinnerte sich daran, dass Annika und ihre Freundinnen sich bereits damals, als der Fall durch alle Medien gegangen war, darüber geärgert hatten. Andererseits war genau daran die Anklage gegen Aras Demizgül aufgehängt.
So hatte es sich beim Staatsanwalt angehört:
»Deryas Lebenswandel war mit der traditionellen Auffassung ihrer Familie von der Rolle der kurdischen Frau nicht vereinbar.«
Ein Mord aus religiösen Motiven also, ein sogenannter »Ehrenmord«.
»Kennst du denn die Familie?«
Annika zuckte mit den Schultern. »Nicht richtig. Die Eltern hab ich ab und zu mal gesehen, wenn was in der Schule war. Derya hat doch Theater gespielt.«
»Und dann ist die Familie gekommen?«, hakte Ruth nach.
»Klar. Die waren immer da, wenn Derya aufgetreten ist. Der Bruder auch. Die sehen eigentlich nicht so aus … also so voll religiös.«
Ruth wusste, was Annika meinte. Sie hatte die Eltern auch lange genug beobachtet. Die Mutter von Aras und Derya war eine attraktive Dunkelhaarige mit wunderbar schwarzen Augen. Sie sah eher aus wie eine ins Alter gekommene Prinzessin aus dem Orient als wie eine religiöse Fundamentalistin. Sie war am Tag der Verhandlung ganz normal gekleidet gewesen, westlich, dezenter Schick, nichts Exklusives, aber in keiner Weise auffällig. Eine gemusterte Bluse, die obersten beiden Knöpfe geöffnet, eine Strickjacke, Jeans, Stiefel. Offene Haare, Schmuck, lackierte Fingernägel, kaum Make-up. Jede zweite Berlinerin sah so aus, von Kopftuch und Verhüllung keine Spur. Der Vater von Derya trug einen üppigen schwarzen Schnurrbart, das war vielleicht das einzige auffällige Merkmal, das auf die Zugehörigkeit zu
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