Unschuldslamm
Teufelsseestraße im Bezirk Westend wird ein junges Mädchen mit Stichwunden gefunden. Sie ist laut Anrufer schwer verletzt und blutet stark aus vielen Wunden.
Polizeihauptwachtmeister Hans Seltsam und Polizeimeisteranwärter Heike Rastatt fahren zum Einsatzort, den sie um 1.35 Uhr erreichen, zeitgleich mit dem von ihnen verständigten Notarzt. Sie sehen ungefähr in Höhe Einmündung Insterburgallee auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Mann, Aras Demizgül, auf dem Bürgersteig sitzen, der den Oberkörper eines jungen Mädchens hält, Derya Demizgül, seine Schwester, wie sich später herausstellt. Das Mädchen ist blutüberströmt und bewusstlos. Die Beamten wollen Erste Hilfe leisten, aber der junge Mann will seine Schwester nicht aus den Armen lassen. Er wirkt verzweifelt, er weint und schreit. Immer wieder wiederholt er den Namen seiner Schwester, beugt sich über sie und küsst sie. Erst als der Notarzt eingreift, gelingt es den Polizisten, die Verletzte dem Mann zu entwinden.
Der Notarzt stellt um 1.50 Uhr den Tod des Mädchens fest. Da Aras D. sichtlich unter Schock steht sowie am gesamten Körper Blutspuren anhaften und nicht erkenntlich ist, ob der Mann verletzt ist, verabreicht der Notarzt ihm eine Beruhigungsspritze. PMA Rastatt und PHW Seltsam setzen den Mann in das Einsatzfahrzeug. Während PHW Seltsam den Kriminaldauerdienst verständigt, beginnt PMA Rastatt, die Personalien der Umstehenden für etwaige Zeugenaussagen aufzunehmen. Der Mann, Aras D., unternimmt keinen Fluchtversuch. Als PHW Seltsam beginnt, den Fundort abzusperren, nimmt PMA Rastatt eine erste Aussage des Aras D. auf.
Protokoll der ersten Zeugenvernehmung von Aras Demizgül am 26. August, 1 Uhr 45, Ort: Einsatzfahrzeug, Teufelsseestraße, 14193 Berlin, in Höhe Einmündung Insterburgallee.
RASTATT: Wie ist Ihr Name? Können Sie sich ausweisen?
Der Befragte reagiert zunächst nicht, er weint.
RASTATT: Können Sie mich verstehen? Sprechen Sie Deutsch?
Der Befragte nickt.
RASTATT: Können Sie mir Ihren Namen sagen?
Der Befragte nickt erneut, aber er ist nicht in der Lage zu antworten.
PMA Rastatt wartet eine Minute, bis sie die Frage wiederholt.
RASTATT: Sagen Sie mir, wie Sie heißen.
DER BEFRAGTE: Aras Demizgül.
RASTATT: Aras Demizgül.
Der Befragte nickt. Er weint erneut.
RASTATT: Können Sie sich ausweisen?
Der Befragte nickt und zieht eine Brieftasche aus der Hose. Er gibt der Beamtin den Ausweis. Der Befragte kann sich als Aras Demizgül ausweisen, er ist deutscher Staatsbürger. PMA Rastatt nimmt die Personalien auf.
RASTATT: Kennen Sie das verletzte Mädchen?
Aras D. ist nicht in der Lage zu antworten. Er bricht erneut weinend zusammen.
Die Beamtin wartet, bis sich der Befragte etwas erholt hat.
RASTATT: Sie kennen die junge Frau?
Aras D. nickt.
DER BEFRAGTE: Derya. Meine Schwester.
RASTATT: Wissen Sie, was passiert ist?
Der Befragte schüttelt den Kopf. Er ist erneut nicht in der Lage zu sprechen.
PMA Rastatt verständigt sich mit ihrem Kollegen PHW Seltsam darauf, die Befragung von Aras D. zu unterbrechen.
»Er hat sie gefunden, verstehst du? Er hat sie aus dem Gebüsch gezogen, seine eigene Schwester.«
Ruth drehte nervös die Teetasse in der Hand. Sie war mit Jamila wieder nach drinnen gegangen. Die Marokkanerin stand hinter dem Tresen, bediente die Kaffeemaschine, schnitt Kuchen ab und servierte. Es saß lediglich ein Pärchen an dem kleinen Tisch am Fenster. Jamila stellte ihnen Kuchen und Kaffee hin, dann kam sie zurück zum Tresen und nahm Ruths Hände in ihre. Sie stellte keine Fragen, und Ruth war dankbar dafür. Sie wollte reden, es tat ihr gut. Am liebsten hätte sie gestern Abend noch jemanden gehabt, dem sie von ihren Erlebnissen erzählen konnte, aber Annika war unterwegs gewesen und erst nach Hause gekommen, als Ruth schon schlief.
»Dreiundzwanzig Messerstiche. Am ganzen Körper. Sie hat sich massiv gewehrt.« Ruth stockte. Ihre Stimme versagte fast, als sie weitersprach. »Warum hat sie niemand gehört? Zum Schluss hat ihr der Täter die Kehle durchgeschnitten.«
Ruth blickte Jamila nun direkt in die Augen.
»Tut ein Bruder so etwas?«, fragte Ruth sie.
Jamila zog sanft ihre Hände weg und stützte sich auf den Tresen.
»Ruth, du weißt, wo ich herkomme. Meine Landsmänner sind keine Barbaren. Wir haben Studierte, Gelehrte, Künstler und Intellektuelle. Nicht anders als ihr. Aber es gibt Männer in meinem Land, die schrecken nicht davor zurück, Frauen mit Gewalt
Weitere Kostenlose Bücher