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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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hatte sich mit Freunden getroffen, in der Sandkuhle hinterm Teufelssee. Warum waren sie dort hinausgefahren? Was für Freunde waren das?
    Sie würde Annika fragen, ob das ein beliebter Treffpunkt war. Vielleicht wusste Annika auch, wo Derya und ihre Clique für gewöhnlich abgehangen hatten. Außerdem hoffte Ruth, dass sie schlauer werden würde, wenn Johannes ihr das Material geschickt hatte. Sie hatte es ihm gegenüber nicht konkretisieren müssen, er hatte gleich verstanden, dass er für sie das Archiv seiner Zeitung plündern und ihr alle Artikel schicken sollte, die sich mit dem Tod der jungen Kurdin befasst hatten. Natürlich hätte sie im Internet auch selbst recherchieren können, aber erstens bereitete es ihr keinen Spaß, zehn oder mehr verschiedene Suchkriterien bei Google einzugeben und dann eine fünfstellige Trefferzahl zu erhalten. Und zweitens hatte sie sich einen kurzen Moment lang der Hoffnung hingegeben, dass es ihr Verhältnis zu ihrem Ex entspannen würde, wenn sie ein Mal ein anderes Thema als die versäumten Unterhaltszahlungen hätten. Eine Illusion, wie sie gerade gesehen hatte.
    Anstatt am Hackeschen Markt in die S-Bahn zu steigen, lief Ruth unter den S-Bahn-Bögen hindurch in Richtung Unter den Linden. Es war erst halb neun Uhr abends, und der Spaziergang in der Kälte tat ihr gut. Sie hatte das Gefühl, als lüfte sie ihr Gehirn, als vertriebe die frische Kühle die trüben Gedanken, die sich seit dem gestrigen Tag hinter ihrer Stirn angesammelt hatten.
    Die Verhandlung hatte etwas über vier Stunden gedauert. Nach der Verlesung der Anklage durch den Staatsanwalt und ihrer Vereidigung waren die ersten Zeugen aufgerufen und vernommen worden. Leider hatte Ruth nicht immer mit der nötigen Konzentration folgen können, sie hatte Aras, den mutmaßlichen Mörder, beobachtet und die Eltern, die schräg hinter dem jungen Mann unter den Zuschauern saßen. Es waren nur wenige Schaulustige zur Verhandlung in den viel zu großen Saal gekommen. Einige Journalisten, eine Handvoll Rentner, die sich gut zu kennen schienen und nicht das erste Mal einem Strafprozess beiwohnten. Drei junge Mädchen, zwei davon dem Aussehen nach türkisch oder eben kurdisch, eine Blonde. Die Mädchen hätten sicher in der Schule sein müssen, aber augenscheinlich waren es Freundinnen von Derya. Sie saßen dicht aneinandergedrängt und hielten während der Verhandlung Händchen. Alle drei waren tief erschüttert, manchmal wischten sie sich Tränen aus den Augen, und Ruth hatte gesehen, wie die Schultern eines der Mädchen zuckten, weil sie weinen musste. Ruth nahm sich vor, Annika danach zu fragen. Vielleicht wusste sie, wer die drei waren. Aus der Verhandlung war jedenfalls nicht hervorgegangen, welchen Umgang Derya pflegte, welches Leben sie führte. Auch das hatte Ruth sehr betroffen gemacht. Dass sie nichts über die Tote erfahren hatte. In den gesamten vier Stunden war Derya Demizgül nur ein toter Körper gewesen. Eine Sechzehnjährige, der man die Kehle durchgeschnitten hatte und über die der Rechtsmediziner gesagt hatte, dass sie vollkommen gesund und noch Jungfrau gewesen war.
    Während sie an der Humboldt-Universität vorbeilief und einen Blick auf den Opernplatz warf, in dessen malerischer Kulisse sich Eisläufer auf der Kunsteisbahn vergnügten, dachte Ruth, dass sie mehr über Derya in Erfahrung bringen musste. Sie würde nie verstehen, wer das junge Mädchen umgebracht hatte, wenn sie nicht wusste, wer Derya gewesen war.
    B ERLIN- W ESTEND, M OHRUNGER A LLEE,
EIN M ONTAG IM J ANUAR, DREIUNDZWANZIG U HR
    Seit die Verhandlung lief, kamen die Bilder wieder. Er wäre gerne hingegangen, Michelle, Lana und Özlem waren da gewesen. Aber dann hatte er sich nicht getraut. Wenn seine Mutter das mitbekommen hätte, wäre sie getillt. Valentin drehte »The Heavy« noch lauter und schloss die Augen. Seine Mom hatte an der Tür geklopft, aber er hatte ihr nicht geantwortet. Er konnte sie nicht mehr ertragen. Eigentlich hatte er schon vor der Sache mit Derya nicht mehr mit ihr gekonnt, sie nervte einfach IMMER . Aber seit er Derya mit nach Hause gebracht hatte, ging es gar nicht mehr. Von Anfang an war sie dagegen gewesen. Eine Kurdin, seine Mutter war geschockt gewesen. Er hatte sogar gehört, dass sie seinen Vater überreden wollte, dass er die Schule wechselte. Vielleicht sei die »Durchmischung an der Schule doch nicht so ideal«. Aber sein Vater hatte nur mit den Schultern gezuckt. Dem war alles egal. Seine Mutter

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