Unschuldslamm
bestimmte das Leben der Familie, und Valentin wusste, dass das seinem Vater nur recht war. Je weniger er sich einmischte, desto weniger Streit gab es, desto weniger musste er sich mit seiner Frau unterhalten. Seine Eltern waren so vertrocknet, sie waren eigentlich schon tot.
Valentin wurde es augenblicklich heiß, Tränen schossen ihm in die Augen, und sein Zwerchfell verkrampfte sich. Er schluchzte kurz auf. Der Schmerz war so groß, immer noch. Er dachte an Deryas Körper, den immer warmen, festen, lebendigen Körper. Ihre Haut war weich gewesen, er hatte darunter das Blut gespürt, wie es pulsierte. Warum musste Derya sterben? Warum hatte nicht seine Mutter sterben können? Derya war voller Leben gewesen, sie hatte weiße glatte Zähne gehabt, er war mit seiner Zunge über ihre Zahnreihen gefahren, hatte sie geschmeckt. Ihre starken Lippen, sie hatte Muskeln in den Lippen gehabt. Beim Küssen hatte sie sich richtig festgesaugt, er hatte sich manchmal gewünscht, in ihr zu verschwinden.
Valentin stöhnte. Er dachte jeden Abend an Derya, er ging mit seinem Traum ins Bett und stand mit ihm morgens auf. Er konnte den Schmerz nicht ertragen, dass sie nie wieder zurückkommen würde. Seine Freunde glaubten, dass er einfach eine andere nehmen sollte. Er war beliebt, die Mädchen fanden ihn scharf. Und seit er trauerte, fanden sie ihn noch schärfer. Er sah es in ihren Blicken. Sie wollten ihn trösten, ihn heilen. Valentin nahm das Kopfkissen, umklammerte es und drückte es an seine Brust. Er ließ seinen Tränen freien Lauf, weil er wusste, er würde niemals geheilt werden.
B ERLIN- M OABIT, O LDENBURGER S TRASSE,
EIN S AMSTAGVORMITTAG IM J ANUAR, HALB ELF
»Krass«, kommentierte Annika und ließ den Stapel Papier durch die Finger gleiten. Ihre Tochter hatte sich, für ihre Verhältnisse früh, aus dem Bett gewälzt und stand nun, in dicken Socken, Flauschhose und übergroßem Sweatshirt, am Frühstückstisch, den Ruth im Lauf der letzten Stunde vollständig mit Papier bedeckt hatte.
Ruth genehmigte sich einen freien Samstag im Monat. Dann kam Jamila auch am Wochenende in den Laden, gemeinsam mit der studentischen Aushilfe. Ansonsten hatte Jamila samstags und sonntags frei, sie hatte ja Familie. Ruth übernahm gerne das Wochenende, seit die Kinder so groß waren, dass sie nichts mehr mit ihr unternahmen. Wenn sie ehrlich war, musste Ruth eingestehen, dass sie gar nicht gewusst hätte, was sie mit einem freien Single-Wochenende hätte anfangen sollen. Manchmal kam es sogar vor, dass Ruth den freien Samstag nur zur Hälfte ausnutzte. Dann schlief sie zwar aus und frühstückte ausgiebig mit der Tageszeitung, schlug aber mittags im Bistro auf, um Jamila nach Hause zu schicken. Heute jedoch, das hatte sie beschlossen, als sie den dicken Umschlag von Johannes aus dem Briefkasten gezogen hatte, würde sie den ganzen Tag zu Hause bleiben.
Am Abend des Vortags war die Mail von Johannes gekommen, eine komprimierte Datei im Anhang, gekrönt von der süffisanten Bemerkung, dass er ihr den gesamten Packen Zeitungsartikel auch noch in ausgedruckter Form schicken würde, da er nicht auf ihre Fähigkeit vertraute, die Datei zu öffnen und obendrein noch auszudrucken.
Tatsächlich hatte Ruth, trotz ihrer Neugier, die Mail von Johannes gestern Abend nur noch gespeichert, aber nicht mehr geöffnet. Sie war, wie immer am Ende der Arbeitswoche, völlig k. o. gewesen und hatte es gerade noch geschafft, sich den Freitagskrimi reinzuziehen. Der wie immer so grottenschlecht gewesen war, dass sie dabei einschlief.
Aber kaum war die Post am Morgen durch gewesen – die für Berliner Verhältnisse extrem früh kam, nämlich bereits um neun, was den Verdacht nahelegte, dass die Oldenburger Straße der Beginn der Verteilerroute sein musste –, konnte sie ihre Neugier nicht mehr zügeln. Seit über einer Stunde saß sie nun auf der alten Kinobank in ihrer Küche und las die Artikel, die Johannes ihr geschickt hatte. Dabei ließ Ruth sogar ihren Tee kalt werden.
Annika hatte eine Kopie von oben aus dem Stapel genommen und ließ sich auf den Stuhl fallen, während sie las. Sie zog die Beine an, schlang die Arme darum, und Ruth konnte ihrer Tochter ansehen, dass die Betroffenheit, die die Mädchen damals alle ergriffen hatte, als Derya gerade gestorben war, wieder von ihr Besitz ergriff.
Annika guckte hoch und war weiß um die Nasenspitze. Sie ließ den Zeitungsbericht auf den Tisch fallen und deutete vage auf den Stapel.
»Was soll das?
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