Unser Autopilot - wie wir Wünsche verwirklichen und Ziele erreichen können
führte. Nur was? Der Kellner rechnete für jeden Gast den korrekten Betrag aus. Er hatte, wie damals wohl üblich, nichts notiert, erinnerte sich aber perfekt an all das, was jeder Einzelne verzehrt hatte. Lewin bat seine Schüler, noch ein wenig sitzen zu bleiben. Ein paar Minuten später rief er den Kellner abermals an den Tisch und bat ihn, noch einmal zu wiederholen, wer was zu sich genommen hatte. Der Kellner war erbost, denn er konnte sich an nichts mehr erinnern!
Lewin fand dies bemerkenswert. Würde nicht ein reines Assoziationsmodell des menschlichen Gedächtnisses vorhersagen, dass hier eine zeitnahe Aktivierung stattgefunden hat? Wie kann es aber sein, dass ein Kellner, so kurz nachdem er abkassiert hatte, alles vergessen hat? Wo war der Saft in dem eben noch aufgeladenen Akku geblieben? Lewin nahm an, dass die Idee mechanisch arbeitender Assoziationsketten unzureichend ist, um menschliches Verhalten zu verstehen. Seiner Meinung nach ist die Psyche viel dynamischer – und in gewisser Weise cleverer, als die Assoziationisten es annehmen. Wenn man sich ein wichtiges Ziel vornimmt, so entsteht laut Lewin eine Spannung im Individuum, eine Spannung, die man als Motivation beschreiben kann und die bei ihm keinesfalls negativ oder gar im Sinne von An spannung gemeint war. Diese Spannung löst sich, sobald man ein Ziel erreicht, es vergisst oder nicht mehr verfolgen will. Wichtige Ziele vergisst man nicht so leicht und gibt sie auch nicht ohne weiteres auf. Sie führen so lange zu einer Spannung, bis man sie erreicht hat. Die Spannung, ein Ziel zu erreichen, und die Entspannung nach Zielerreichung, so Lewin, wirken sich auch unmittelbar auf das Gedächtnis aus. So ist anzunehmen, dass das Gedächtnissystem des Kellners so lange in einer Art Spannung war, bis er den Quasselstrippentisch abrechnen konnte. Nachdem er abkassiert hatte, trat eine Entspannung ein, die zum Vergessen führte.
Da man in einem Café schlecht naturwissenschaftliche Studien durchführen kann, bat Lewin zusammen mit seiner russischen Studentin Bluma Zeigarnik Probanden in sein Labor. Dort sollten sie eine Reihe von Aufgaben durchführen, etwa eine Perlenkette aufreihen, Städte aufzählen, rückwärts zählen und vieles mehr. Als man am Ende der Studie die Versuchsteilnehmer bat, sich daran zu erinnern, was sie alles getan hätten, erinnerten sie jene Aufgaben besser, die sie nicht zu Ende ausgeführt hatten; jene hingegen, die sie zu Ende gebracht haben, hatten sie eher vergessen.
Gedächtnismodelle, die Ziele als Assoziationen betrachten, bei denen vor allem Häufigkeit der Aktivierung und Zeitnähe eine Rolle spielen, haben Schwierigkeiten, diese Befunde zu erklären. Schließlich lagen die unerledigten Handlungen ebenso lang zurück wie die erledigten. In dem oben genannten Experiment war außerdem die Häufigkeit der Aktivierung (also die Zeitspanne, in der sich die Versuchsteilnehmer damit beschäftigten) für alle Aufgaben gleich gehalten worden.
Vor kurzem haben meine Kollegen Nira Liberman, Tory Higgins und ich den nach Lewins Studentin benannten Zeigarnik-Effekt mit Hilfe moderner Forschungsmethoden untersucht. Wie viele andere gehen wir davon aus, dass uns unser Gedächtnis bei der Ausführung von Handlungen unterstützt. Suchen wir beispielsweise morgens unsere Brille, so wäre es nützlich, wenn die gängigsten Fundorte automatisch in unserem Gedächtnis aktiviert würden: etwa Bücherregal, Fernsehsessel, Badezimmerablage oder Hundekorb – je nachdem, wo wir sie üblicherweise finden. Bis hierhin sind alle Assoziationsmodelle mit uns einig.
Schauen wir uns jedoch die Aktivierung an, nachdem die Brille gefunden wurde, dann scheiden sich die Geister. Einem rein mechanischen, assoziationistischen Modell zufolge müsste das Finden der Brille, verbunden mit der Freude und dem eventuellen Aufschrei: » Schatz, ich habe die verdammte Brille!«, eine recht starke, zeitnahe Aktivierung sein, die nicht so schnell verfliegt. Mit anderen Worten: Die Brille und alle damit verbundenen Gedanken sollten uns noch eine Zeitlang beschäftigen. Ist dem aber wirklich so? Ein Assoziationist müsste dies annehmen und würde auch auf dem Weg zur Arbeit, wo ihm ein anstrengendes Meeting und anderes bevorstehen, gedanklich immer noch mit der Brille beschäftigt sein. Wir dagegen folgen Kurt Lewins Spannungsmodell und behaupten, dass die Aktivierung im Gedächtnis nach der Zielerreichung schlagartig zurückgeht. Und nicht nur das. Wir denken, dass
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