Unser Autopilot - wie wir Wünsche verwirklichen und Ziele erreichen können
die Lesegeschwindigkeit in dieser Versuchsgruppe sank erheblich.
Für diesen Effekt können kaum bewusste Prozesse verantwortlich gewesen sein. Die Versuchsteilnehmer hatten nicht den Eindruck, dass bestimmte Wörter einfacher für sie zu lesen waren als andere. Aber das war auch nicht zu erwarten, denn natürlich läuft das Lesen von Wörtern im Millisekundenbereich ab, und man hat schlichtweg kein Empfinden für Unterschiede innerhalb dieser Reaktionsspanne. Unser Experiment zeigt damit eine unbewusste Hemmung, denn es ist beinahe unmöglich, die Leistungen in der Leseaufgabe bewusst zu beeinflussen. Damit haben wir auf der Grundlage heutiger strenger methodischer Standards den von Bluma Zeigarnik erstmals gezeigten Effekt bestätigt und bewiesen, dass unser Gedächtnissystem dynamischer ist, als die Psychologen ihm jahrelang zugetraut haben. Anders gesagt: Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob man einen Gedanken einfach hat oder ob er Teil eines Zieles ist und ob man das Ziel erreicht oder nicht.
Hier ein Beispiel, wie man das allgemeine Gesetz, dass die Häufigkeit, mit der wir an etwas denken oder erinnert werden, und Zeitnähe die Aktivierung eines bestimmten Gedankens regulieren, auf den Alltag übertragen kann. Schauen wir uns etwa die Auslage eines Brillengeschäfts an – ohne dass wir eine Brille brauchen, also ohne dass wir das Ziel haben, sie zu kaufen –, dann gilt: Je mehr und je kürzlicher der Gedanke »Brille« aktiviert wurde, umso aktiver ist er. Mit anderen Worten: Der Gedanke wird stark aktiviert beim Blick ins Schaufenster, aber schon fünf Minuten später, wenn wir vor einem interessanten Modegeschäft stehen, ist er weniger aktiviert, und wenn wir eine halbe Stunde später ein Eis essen, ist er so gut wie gar nicht mehr vorhanden. Ist ein Gedanke jedoch Teil eines Ziels, weil wir beispielsweise eine Brille kaufen wollen, dann gelten andere Gesetze: Die Aktivierung brillenverwandter Begriffe steigt so lange an, bis wir das Ziel erreicht haben; sobald das Ziel erfüllt, die Brille also gekauft ist, findet automatisch eine Hemmung statt. Diese Situation entspricht der Bedingung in unseren Experimenten, wo Probanden eine Brille suchten und sie auch fanden.
Diese unbewussten Hemmungseffekte zeigen auch die Grenzen der Metapher eines Autopiloten auf – man kann diesen Begriff sicherlich dehnen, aber ein Autopilot, der ein Ziel gemäß der Bedürfnislage seines Fahrers erkennt und sich je nach Fall nicht nur ausschaltet, sondern seinen Einsatz gleichzeitig kurzzeitig hemmt, der muss erst einmal erfunden werden. Zudem ist Zielerreichung ja eine rein subjektive Angelegenheit. Während im Experiment alle Probanden die Brille finden konnten und auch gefunden haben, sieht das wirkliche Leben anders aus: Wann bin ich wirklich ein guter Vater, und wann bin ich gut genug in der Schule? Wann kommt es also zur Hemmung? Wenn man solch dynamische und höchst subjektive Prozesse mit Hilfe einer Maschine simulieren wollte, dann wäre das sicherlich ein Quantensprung in den Ingenieurswissenschaften. Um Kritiken vorzugreifen: Ich bin sowieso kein Freund der mechanistischen Perspektive. Im bewussten Zustand können wir sehr wohl flexibel gestalten und sind zu unkonventionellen Entscheidungen fähig. Der Punkt ist vielmehr, dass sogar unser sogenanntes Unbewusste teils äußerst dynamisch arbeitet. Es ist viel flexibler, als wir lange dachten.
Vergessene Hochzeiten und anhaltendes Grübeln
Allerdings findet nicht in jedem Falle ein entspanntes Vergessen nach Zielerreichung statt. Nehmen wir einmal Heiraten als Ziel. Als meine Freundin Zö sich zum ersten Mal vermählte, verschickte sie selbstbemalte Karten aus Papier, das ihr Bräutigam Jean-Marie mit ihr zusammen geschöpft hatte. »Wir sind die glücklichsten Menschen der Welt und werden mit unserer Liebe die Welt erhellen«, war handgeschrieben darauf zu lesen. Typisch Zö: Es genügte ihr nicht, sich selbst »unter die Haube« zu bringen, wie man in Ostwestfalen sagt, nein, mit diesem Akt sollte gleich die ganze Welt verändert werden.
Für Mark-Rüdiger war die Sache einfacher: Das Motto »Wat mut, dat mut« galt auch für seine Heirat. Nachdem er zwölf Jahre mit Gesine zusammengelebt hatte, machte er ihr eines Tages einen Heiratsantrag – in dem Lokal, in dem sie sich auch kennengelernt hatten. Gesine stimmte nach einiger Bedenkzeit zu. Auf schönen, nicht zu teuren Karten wurde konventionell freundlich eingeladen: »Ihre Hochzeit geben kund….«
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