Unser Doktor
Papier. Haben Sie mal ein Lächeln gesehen auf einem Gesicht, das weiß wie Papier ist? Mit dem letzten Rest von Atem sagte sie: >Zeig es ihr.< Und ich tat, was sie wollte. Ich nahm das Kind und zeigte es der alten Frau Muntwiler . Die hatte die ganze Zeit in der Küche gesessen inmitten von Wasserdämpfen. Ich zeigte ihr das Kind und sagte: >Das ist dein Enkel.< Sie stand auf und betrachtete das Kind lange, dann sah sie mich an. >Ist es gesund?< fragte sie. Ich sagte: >So gesund wie du und ich.< Sie sagte nichts und setzte sich wieder.«
»Was haben Sie erwartet?«
Langsam sagte er: »Ich dachte, sie würde sich freuen. Aber es kann natürlich auch sein, daß sie nun nie darüber hinwegkommen wird, daß einer anderen Frau gelungen ist, was ihr nicht gelang: Ein gesundes Kind zur Welt zu bringen.«
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich werde es ihnen schon beibringen, daß sie sich zu freuen haben.«
Wir fuhren jetzt einen Weg, den ich nicht kannte.
In der Ferne zeichneten ein paar Schornsteine Linien in den blassen Himmel. Sie gehörten zu einer Zementfabrik.
Wenige Minuten später hielten wir vor einem großen grauen Gebäude.
»Das ist das Altersheim«, sagte der Doktor, »in der Gegend nennt man das Haus nur den >Sarg>. Womit die Leute nicht ganz unrecht haben.«
Eine Schwester stand in der Tür und rief: »Kommen Sie schnell, Doktor.«
Der Doktor nahm seine Tasche und lief in das Haus.
Er trug wieder seine Wickelgamaschen, seine Kordhose. Der Ruf schien ihn alarmiert zu haben. So behende hatte ich ihn bisher nicht gesehen.
Die Sonne kam jetzt durch und zeigte das häßliche Gebäude schonungslos.
Ich stieg aus.
Jetzt erst fiel mir auf, daß an der gelben fleckigen Wand einige alte Leute standen.
Sie standen wie schwarze Striche und bewegten sich nicht. Sie hatten die Gesichter der Sonne zugekehrt. Wenn sie miteinander sprachen, dann so leise, daß man es nicht hörte. Sie machten einen Eindruck von Unlebendigkeit. Fast jeder hielt einen Stock in der Hand.
Ich ging auf das Haus zu.
Wie wenn ein leichter Wind über sie hinweggeht, wandten sie nun die Köpfe, als seien es Blinde, die sich nach dem Geräusch orientieren.
Sie wirkten wie Gegenstände, die man hinausgetragen hat. Man würde sie eine Weile dort stehen lassen und dann wieder hineintragen.
Ich durchschritt das Portal.
Die Gänge waren sehr hoch, der Boden hatte ein Steinpflaster.
Es war still wie in einer Kirche.
Es roch nach feuchter Kälte, nach abgeseiftem Holz.
Ich sah mich um und ging dann langsam den Gang entlang.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine Tür zu öffnen. Sie sah aus wie eine Tür zu einem Klassenzimmer, schwarz, mit abgeblätterter Farbe.
Ich blickte in ein Zimmer, in dem vier Betten standen. Ich hatte sofort den Eindruck eines Kasernenzimmers, nur daß die Betten nicht übereinander standen.
Es waren vier alte Frauen im Zimmer. Sie sahen aus, als seien sie gerade von einer Beerdigung gekommen. Zwei saßen am Tisch, zwei standen. Alle sahen mich an. Sie machten den gleichen Eindruck von Lautlosigkeit.
Ich schloß die Tür wieder und drehte mich um.
Über den Gang schlurfte langsam ein alter Mann in Stoffpantoffeln. Er hielt in beiden Händen eine Blechschale.
Er ging wortlos an mir vorbei.
Ich ging in die andere Richtung und hörte plötzlich einen Laut, wie wenn ein Mensch einen Ton ausstößt, der alles sein könnte: Schmerz, Jubel. Es war nicht zu identifizieren, außer daß es ein menschlicher Ton war.
Eine Tür stand halb offen.
Ich hörte jetzt die Stimme des Doktors. Ich unterschied keine Worte, er sprach gleichmäßig, ruhig. Aber seine Stimme erleichterte mich, sie nahm mir sofort meine Beklemmung, die ich gespürt hatte, seitdem ich das Haus betreten hatte.
Eine Schwester kam aus dem Zimmer, sah mich verblüfft an. »Ich bin mit dem Doktor gekommen«, sagte ich.
Sie ging wortlos an mir vorbei, als habe ihr die Erklärung genügt. Im Hintergrund erschien eine weitere Schwester.
Die beiden sprachen miteinander und verschwanden.
Dann kam der Doktor langsam aus dem Zimmer, sah mich abwesend an. Dann lächelte er fast schüchtern.
»Kommen Sie«, sagte er.
Wir stellten uns draußen in die Sonne. Der Doktor behielt seinen konzentrierten Gesichtsausdruck, als stünde er unter einer Spannung, die so schnell nicht von ihm weichen wollte. »Ein alter Mann«, sagte er, »hatte Herzbeschwerden, Angstzustände. Er ist siebenundsiebzig Jahre alt.«
»Ist das nicht normal?« fragte
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