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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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ich.
    »Normal?« wiederholte er und sah mich an. »Das ist auch so ein Wort, mit dem man Probleme von sich wegschieben kann. Diesem Mann ist vor fünf Tagen die Frau gestorben. Sie haben beide hier gelebt, in einem Zimmer.«
    Ich sah mich um. Ich fror etwas, trotz der Sonne, die immer noch die Schatten der stehenden alten Leute gegen die gelbe Hauswand warf.
    »Können Sie sich vorstellen«, fuhr der Doktor fort, »was das heißt, wenn zwei Leute mehr als fünfzig Jahre miteinander verheiratet sind? Es bedeutet hier mehr als in der Stadt. Die Stadt trennt Menschen, das Land führt sie zusammen. Es gibt hier keine Reize von außen, und die natürliche Abmagerung des Lebens mit zunehmendem Alter macht den Partner immer wichtiger. Eine Sache der Gewöhnung, so als stünden zwei Leute schließlich mit einem Paar Füße auf dem Boden.« Er sah mich nachdenklich an. »Wer begreift das schon? Alle Wichtigkeiten des Lebens verflüchtigen sich. Die Umwelt wird fremder, unbekannter, drohender, je mehr die Kräfte nachlassen, und schließlich beschränkt sie sich auf ein Zimmer als dem einzig bekannten Platz. Und diesem Mann, der nun allein geblieben ist, will man diesen Platz nehmen.«
    »Wie?« fragte ich.
    »Ja, sie brauchen das zweite Bett. Der Mann ist jetzt allein, also soll er in ein anderes Zimmer. In sein Zimmer soll nun ein anderes Ehepaar.«
    Er ereiferte sich plötzlich. »Im Namen der Ordnung, der Zweckmäßigkeit wird viel Unrecht begangen. Der Mann kann vielleicht den Tod seiner Frau verwinden — denn auf den Tod warten sie ja alle, aber er kann nicht verwinden, daß er das Zimmer verlassen muß, in dem er so lange mit ihr gelebt hat. Alte Leute sind hilflos, sie bringen keinen Willen zur Geltung, weil sie keinen mehr haben. Er sitzt da wie mit einer offenen Wunde, und das Leben strömt aus ihm heraus. Solche Wunden bemerkt keiner. Es ist bequemer, sie nicht zu bemerken.«
    »Was haben Sie getan?«
    »Ich habe dafür gesorgt, daß er sein Zimmer behält.«
    Er lachte. »Das haben sie schließlich begriffen, aber dann wollten sie wenigstens das zweite Bett entfernen.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich sagte: Ihr dürft ihm auch das zweite Bett nicht nehmen. Wartet, denn ihr braucht nicht lange zu warten.«
    »Was meinen Sie?«
    »Er wird sterben. Er geht von selbst schneller auf sein Ende zu. Es gibt keinen Grund mehr für ihn zu leben. Er macht jeder Krankheit jetzt schweigend die Tür auf.«
    Er sah sich um.
    Unter dem Portal des Hauses stand die Schwester und führte einen alten Mann heraus.
    Der Doktor ging gleich auf ihn zu. Er nahm ihn bei der Hand und führte ihn abseits.
    Ganz langsam gingen beide über den weiten Platz, der mit seinen grün-braunen Buckeln einen unaufgeräumten Eindruck machte, als habe ein Makler diesen Platz für Mietskasernen vorgesehen, als sei aber eine Wirtschaftskrise dazwischengekommen und es würde wohl nie etwas aus diesem Platz werden.
    Das bleiche Licht löste Konturen auf und machte sie anderenorts schärfer.
    Der Doktor und der alte Mann gingen langsam, zwei verwaschene graue Gestalten, jetzt scharf und schwarz, als zeichne stärker werdendes Licht ihre Konturen nach. Sie wirkten klein unter dem riesenhaften Himmel, klein und merkwürdig schweigend. Ganz plötzlich kehrte der Doktor sich ab, kam auf mich zu. Wir bestiegen den Wagen und fuhren weiter.
    »Was haben Sie ihm gesagt?« fragte ich.
    Er lächelte. »Nur ein wenig gesprochen. Er muß eine Stimme hören, das ist alles.«
    Er sah auf die Uhr und fuhr schneller.
    »Alte Leute werden nutzlos, das ist das Schlimme. Man hat sich angewöhnt, sie verwundert anzusehen, warum sie eigentlich noch da sind. Das ist auf dem Lande so wie in der Stadt.«
    Er lachte plötzlich.
    »Wissen Sie«, sagte er, »ich besuchte neulich einen alten Mann, der bettlägerig war. Wasser in den Beinen. Ich schlug seine Bettdecke auf, und was meinen Sie, was ich sah? Junge Küken, eben aus dem Ei geschlüpft. Seine Tochter, die neben mir stand, war nicht etwa verlegen. »Wissen Sie, Doktor<, sagte sie, >er taugt wirklich nichts mehr, aber wir lassen ihn die Eier ausbrüten, das geht sehr gut.< Es ging wirklich sehr gut«, lachte der Doktor.
    Wir fuhren auf einen Wald zu, der wie eine Mauer stand.
    »Der Weg ist hier zu Ende«, sagte der Doktor. »Da stehen ein paar Häuser und dann ist es aus.«
    Er fuhr vor einem Schuppen vor und stieg aus.
    »Kommen Sie mit«, forderte er mich auf.
    Ich stieg ebenfalls aus und besah die Holzhütte

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