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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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zweifelnd.
    »Ja, es wohnen Menschen dort«, sagte der Doktor, der meinen Blick bemerkte. »Kommen Sie ruhig mit rein.«
    Der Doktor schien mir verdrossener als sonst. Ich kannte ihn inzwischen so gut, daß ich wußte, er stellte sich schon auf seine Patienten ein.
    Wir betraten einen niedrigen Flur. Alles sah verkommen und verwahrlost aus. Es war eiskalt.
    Der Doktor stieß eine Tür auf und rief scharf: »Hallo.«
    Ein Mann hatte anscheinend untätig an einem Tisch gesessen. Er stand auf. In einem Bett lagen zwei Kinder und starrten uns an. Kalkbleiche Gesichter, dunkle Augen, mit einem Ausdruck von frecher Unterwürfigkeit.
    Der Mann sah den Doktor an, dann mich. Sein Blick ging hin und her. »Sie haben Halsschmerzen«, sagte der Mann und wies auf das Bett.
    Die Tür öffnete sich knarrend, und eine Frau kam herein. Hinter ihr folgten noch vier Kinder. Alle standen schweigend da, kalkbleich und mit dem gleichen Ausdruck von frecher Unterwürfigkeit in den Augen.
    »Warum ist es so kalt hier?« fragte der Doktor.
    »Kein Holz«, antwortete der Mann, »wir haben kein Geld, um Holz zu kaufen.«
    Er bewegte sich jetzt etwas, und ich sah, daß er ein Bein nachzog.
    »Du brauchtest nur auf die Gemeinde zu gehen«, sagte der Doktor, »sie würden dir einen Schein geben, daß du Holz sammeln kannst. Du hast den Wald ja vor der Tür.«
    Der Mann schwieg.
    Der Doktor untersuchte die Kinder.
    »Sie geben mir den Schein doch nicht«, sagte der Mann mit Verspätung, »auf arme Leute nehmen die hier keine Rücksicht, auf nischt und niemanden.«
    »Auf nischt und niemanden«, wiederholte die Frau. Sie wies auf ihren Mann. »Als ob sie nicht wüßten, daß er sich nicht bücken kann. Er kann sich ja nicht bücken.«
    Der Mann faßte mit der Hand nach seinem Kreuz, als wolle er demonstrieren, wie recht seine Frau habe.
    »Wir haben keine dreimal ’n warmen Ofen gehabt«, sagte die Frau und sah ihre Kinder an, die prompt anfingen zu zittern. Der Doktor schwieg, schrieb ein Rezept aus. Dann griff er in die Tasche und nahm Hustenbonbons heraus.
    Die Kinder traten vor, nahmen die Bonbons schweigend.
    » Vergelt’s Gott«, sagte die Frau.
    »Und die Krankenkasse«, seufzte der Doktor.
    Wir gingen hinaus.
    Draußen blieb der Doktor stehen und sagte: »Sehen Sie sich mal um. Das ist einer der schönsten Plätze hier. Wenigstens im Sommer. Hier wächst alles, wie es will. Ein Paradies für Pflanzen und Vögel.«
    »Anscheinend nicht für Menschen«, sagte ich.
    Er ließ den Wagen an und lachte.
    »Das sind die faulsten Leute der ganzen Gegend. Der Mann war mal Holzfäller. Ein Baum erwischte ihn, und er hatte den Einfall seines Lebens, er hinkt seitdem und bezieht eine Rente.«
    »Wollen Sie sagen, er ist gesund?«
    »So gesund wie Sie«, sagte der Doktor, »wenigstens, was die Beine und den Rücken betrifft. Er will nicht arbeiten, das ist alles. Sie frieren lieber, als daß sie arbeiten.« Seine Stimme wurde geradezu achtungsvoll. »Und doch«, setzte er hinzu, »die Leute gefallen mir. Sie halten wie Pech und Schwefel zusammen. Die Kinder wachsen auf wie die Füchse. Sie werden stehlen lernen und wildern. Aber sie haben die vollkommene Freiheit.«
    Eins der Kinder lief hinter uns her.
    Der Doktor bremste.
    Das Kind erschien am Wagenfenster. Ein mißtrauischer Blick flog zu mir, dann flüsterte es rasch: »Willst du ’n Hasen haben, Doktor?«
    »Nee«, sagte der Doktor, »sag deinem Vater, er muß sehen, wo er seinen Schnaps herbekommt.«
    Das Kind trat schweigend zurück, und wir fuhren los.
    »Wie alle Nichtstuer«, seufzte der Doktor, »hat er eine Vorliebe für Schnaps. Man sollte Menschen gönnen, wonach sie Verlangen haben, zumal er einmal im Walde sterben wird. Der Förster hat ihn längst auf dem Kieker.«
    »Sie meinen, man wird ihn erschießen?«
    »Wenn der Förster ihn erwischt.« Er sah mich von der Seite an. »Gewehrträger philosophieren nicht wie ich.«
    Wir fuhren nicht weit und hielten vor einem Sägewerk.
    »Hier können Sie auch mit rein«, sagte der Doktor, »das sind nette Leute.«
    Seine Stimme erwärmte sich. »Sehen Sie sich das an.« Ich sah einen Holzplatz, gestapelte Baumstämme, ein ordentliches Gebäude, zwei Wagen vor der Tür.
    »Hallo, Doktor«, rief ein Mann und kam eilig an den Wagen. Er war groß, stattlich, hatte ein gesundes Gesicht.
    Er wischte sich Sägespäne von seiner blauen Arbeitsschürze. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »Sie sind hoffentlich nicht unsertwegen gekommen. Ich sagte, Sie

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