Unser Doktor
sollten bei Gelegenheit vorbeikommen.«
»Ja«, sagte der Doktor und stellte mich vor, »ein Herr aus Hamburg. Er ist zur Erholung hier«, setzte er mit einer Art von Kaltblütigkeit hinzu.
»So?« wunderte sich der Mann höflich und führte uns ins Haus.
Er nötigte uns, Platz zu nehmen, und ging seine Frau zu holen. »Sie haben eine sehr hübsche Tochter«, erzählte der Doktor, »siebzehn Jahre alt. Aber sie ist taubstumm. Sie fiel als Kind vom Tisch und hört seitdem nicht mehr. Und da sie nicht hört, kann sie auch nicht sprechen. Nicht auf die normale Weise.«
Die Mutter kam jetzt mit dem jungen Mädchen herein.
»Das ist Ursula«, sagte der Doktor, lächelte und reichte ihr die Hand.
Das junge Mädchen war wirklich sehr hübsch. Es war so vollendet gewachsen, wie ich selten jemanden gesehen habe. Und dazu die ganze Süße der Jugend.
Das Gesicht war ein wenig rund, es hatte einfach noch einen kindhaften Zuschnitt, als sei das Gesicht das letzte, was in die vollkommene Schönheit hineinwachsen würde.
Die Haut war belebt wie immer bei Gesichtern, die sich unbefangen darbieten.
Die Eltern standen hinter ihr. Sie boten ein Bild vollkommener Liebe und Fürsorge.
Taub und stumm?
Es war einfach nicht glaubhaft, bis ich ihre Stimme hörte, das tonlose Zischen, das Krächzen derjenigen, die ihre eigene Stimme nicht kontrollieren können.
Diese Stimme erweckte eine Art von schmerzlichem Protest in mir. Zugleich wußte ich: Es empört dich, dieses körperliche Gebrechen zu sehen, weil es einen jungen und einen schönen Menschen betrifft.
Der Vater legte ein Kästchen auf den Tisch und öffnete es.
»Es ist das neueste Hörgerät, das es gibt«, sagte er, »wir haben es aus Amerika kommen lassen. Es kostet achtundachtzig Dollar. Es verstärkt die vorhandenen Geräusche ganz ungeheuer.«
Mit ungeschickten Händen suchte er nach dem Prospekt.
Ich blickte das Mädchen an.
Es sah das Kästchen, das funkelnde Gerät, und in ihre Augen trat ein Ausdruck von Angst. Sie trat einen Schritt zurück, hob die Hände, als müsse sie bei der Mutter Schutz suchen. Die Mutter zog das Mädchen an sich.
»Hat sie es probiert?« fragte der Doktor.
Das Mädchen schien ihm die Worte von den Lippen abgelesen zu haben.
Es zischte und krächzte, formte erlernte Sätze, denen nicht der geringste Wohlklang anhaftete.
Der Doktor hörte aufmerksam zu.
»Ja«, sagte der Vater ein wenig hilflos, »sie hat es probiert.« Aufgeregt stieß er hervor: »Es ist ein sehr gutes Gerät, und sie hat etwas gehört. Sie hat zum ersten Male gehört.«
Er schien sich an das Wort zu klammern.
Die Mutter sagte: »Sie hat wirklich gehört, aber sie nahm es sofort ab, sie will es nie wieder anrühren.«
Das Mädchen wandte dem jeweils Sprechenden die Blicke zu. Es zischte wieder etwas und hob dann plötzlich beide Hände hoch, preßte die Handflächen gegen die Ohren und sah den Doktor geradezu flehend an.
Der Doktor schwieg.
Die Mutter fragte, ob wir Kaffee trinken wollten, und der Vater ging an den Schrank und stellte eine Flasche auf den Tisch.
Der Doktor hob das Gerät heraus, betrachtete es genau und las die Beschreibung durch.
Das Mädchen ließ keinen Blick von dem Doktor, und auch die Eltern rührten sich nicht.
Der Doktor tat etwas Überraschendes, er legte das Gerät in den Kasten zurück und stellte ihn weg.
Dann lächelte er das Mädchen an.
»Setz dich, Ursula«, sagte er.
Sie verstand ihn sofort und setzte sich.
Sie setzte sich übrigens in der graziösesten Weise, als habe das Lächeln des Doktors ihr wieder vollkommene Selbstsicherheit gegeben.
»Du hast die Flasche hingestellt«, sagte der Doktor zu dem Vater, »nun hole auch Gläser.«
Der Vater holte sofort Gläser, wobei seine Frau ihm half. Es war ganz unverkennbar, daß alle im Raum dem Doktor vollkommen vertrauten.
Ich beneidete ihn plötzlich sehr um diese Fähigkeit, Ruhe, Vertrauen und Freundschaft zu verbreiten.
Der Doktor ließ sich das Glas einschenken und trank es langsam aus.
»Hört zu«, sagte er langsam, »ihr geht wahrscheinlich von einer falschen Voraussetzung aus. Ihr liebt eure Tochter, und es ist der Kummer eures Lebens, daß sie nicht hören kann. Ihr bedauert sie, ihr bemitleidet sie, weil sie einen Fehler hat.«
Seine Stimme wurde ganz nachdenklich: »Aber ist es ein Fehler? Ein so großer Fehler, wie ihr glaubt?« Er lächelte: »Wenn ich Ursula ansehe, so scheint mir, ist ihre Unfähigkeit zu hören nur ein sehr geringer Fehler
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