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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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eigenen Emotionen verwandelt. Ist diese Simulation der Grund, warum wir die Emotionen anderer Menschen verstehen?
    Diese Frage können wir nicht mit f MRT -Daten allein beantworten, da sie nicht zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden können. Beispielsweise leuchten die Bremslichter Ihres Autos jedes Mal auf, wenn Sie auf die Bremse treten, woraufhin der Wagen sein Tempo verringert. In unserem Experiment geschah etwas Ähnliches mit der Insel. Sie wurde aktiv, wenn die Teilnehmer einen angeekelten Gesichtsausdruck sahen und daraufhin erkannten, dass die Person angeekelt war. Können wir aus diesen Beobachtungen schließen, dass die Bremslichter die Tempoverringerung Ihres Autos bewirken? Können wir den Schluss ziehen, dass Ihnen die Insel-Aktivität im Anschluss an den Anblick angeekelter Gesichtsausdrücke die Erkenntnis vermittelt, der andere sei angeekelt? Beim Auto-Beispiel gibt es eine relativ einfache Methode, um die Kausalbeziehung zwischen Bremslichtern und Tempoverringerung zu testen: Nehmen Sie einen Hammer, zertrümmern Sie die Bremslichter und schauen Sie, ob sich Ihr Auto immer noch abbremsen lässt. Wenn ja, waren die Bremslichter nicht für die Verlangsamung des Autos erforderlich. Wenn es sich nicht mehr bremsen lässt, waren sie es.
    In den Neurowissenschaften gibt es einen ähnlichen Ansatz: Man untersucht Patienten, die infolge Trauma, Krankheit oder Schlaganfall eine Schädigung der betreffenden Hirnregion erlitten haben. Durch Experimente mit solchen Patienten können die Forscher die Frage klären, ob die Schädigung eines bestimmten Hirnareals eine bestimmte Hirnfunktion beeinträchtigt.
    2000 berichteten Andy Calder und seine Kollegen in Cambridge über den Fall eines fünfundzwanzigjährigen Mannes – NK genannt –, der durch einen Schlaganfall eine Läsion seiner linken Insel erlitten hatte. 52 Zunächst zeigte Andy NK Fotos fremder Leute aus verschiedenen Perspektiven und bat ihn, ihm zu sagen, welche dieselben Personen zeigten. Bei diesem Test schnitt NK normal ab. Er erkannte auch Fotos von berühmten Personen. Seine Fähigkeit zur Gesichtererkennung war also erhalten geblieben.
    Dann testete Andy NK s Fähigkeit, emotionale Gesichtsausdrücke wahrzunehmen. Er legte NK Fotos von glücklichen, überraschten, ängstlichen, zornigen und angeekelten Gesichtern vor. Zu jedem Bild konnte NK zwischen sechs Wörtern wählen, die Grundemotionen bezeichneten, und musste dasjenige bestimmen, das am besten zum Gesicht passte. Als NK glückliche Gesichter vorgelegt wurden, entschied er sich rasch für die Bezeichnung »glücklich«. Wurde ihm ein überraschtes Gesicht gezeigt, wählte er »überrascht« aus. Auch mit ängstlichen, zornigen und traurigen Gesichtern hatte er keine Schwierigkeiten. Doch als Andy NK das Foto eines angeekelten Gesichts vorlegte, war dieser verwirrt und entschied sich in der Hälfte der Fälle für »zornig« statt für »angeekelt«. Andy ließ auch sechzig gesunde Versuchspersonen diese Aufgabe ausführen, und sie erkannten Ekel in mehr als 80 Prozent der Fälle. NK war also selektiv beeinträchtigt: Er hatte Schwierigkeiten, auf Fotos mit Gesichtsausdrücken zu erkennen, dass jemand angeekelt war.
    Offenbar ist die Insel notwendig , um Ekel bei anderen zu erkennen, während Bremslichter nicht erforderlich sind, um ein Auto abzubremsen. Halten wir fest, dass das Defizit auf Ekel beschränkt war, was nach den Ergebnissen der f MRT -Studie zu erwarten war, weil der Anblick von erfreuten Gesichtern die Insel weniger aktivierten als der angeekelter Gesichter. Wahrscheinlich lassen sich die übrigen Emotionen nur mit anderen Hirnarealen entdecken.
    Emotionale Laute erkennen
    Auch der Test anderer Sinnesmodalitäten – etwa von Geräuschen und stimmlichen Äußerungen – zeitigte das gleiche Ergebnis. Es ist also zu vermuten, dass die von uns identifizierte Insel-Region nicht nur einen beobachteten angeekelten Gesichtsausdruck für den Betrachter in ein Ekelerlebnis verwandelt, sondern auch eine wahrgenommene Lautäußerung des Ekels zu einem solchen Erlebnis macht – ganz so, wie motorische Spiegelneuronen sowohl auf das Geräusch als auch den Anblick von Handlungen reagieren.
    Dass eine und dieselbe Hirnregion erforderlich ist, um Ekel bei anderen zu sehen und zu hören, ist von Bedeutung. Gemeinsame Schaltkreise scheinen generell auf Anhaltspunkte für Handlungen und Emotionen anderer zu reagieren, unabhängig davon, ob diese Indizien gesehen oder gehört werden.

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