Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
sollen ihrem Gesicht also einen Ausdruck verleihen, als würden sie zürnen oder lächeln, ohne dass diese Gefühle direkt genannt werden. Auf die Frage, wie sie sich fühlten, gaben die Teilnehmer letzterer Versuchsanordnung verstärkt an, sich glücklich zu fühlen, die ersterer, Zorn zu empfinden, woraus folgt, dass ihr Gesichtsausdruck ihre Stimmung beeinflusste. So entsteht ein dynamisches System, das ohne Beteiligung des bewussten Denkens dafür sorgt, dass sich die Gefühle, Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke des Beobachters denen des Senders angleichen. Indem der Beobachter den Gesichtsausdruck des Senders nachahmt, wird er selbst zum Sender und stellt zwischen Personen eine positive Feedbackschleife her, die erklärt, warum sich Emotionen in Gruppen hochschaukeln können. Wenn ich in Nachahmung Ihres Lächelns selber lächle, veranlasst Sie mein Lächeln, noch mehr zu lächeln und Sie noch heiterer zu stimmen, bis wir alle in schallendes Gelächter ausbrechen.
Der Beobachter kann diese vorbewussten Mechanismen durch eine Vielfalt bewussterer Maßnahmen ergänzen. Beispielsweise kann er seine Körperempfindungen beobachten und sich bewusst fragen: »Was löst das für Gefühle in mir aus?« Da der Beobachter in seiner Körperhaltung und seinem Gesichtsausdruck die der beobachteten Person nachahmt und da die eigenen Gefühle von deren Gefühlen angesteckt sind, kann diese der Selbstbeobachtung entspringende Frage den Beobachter über die Gefühle des anderen informieren. Weitere Ergänzungen können sich aus bewusster, emotional-empathischer Vorstellungstätigkeit ergeben. Wenn Sie in einer E-Mail lesen, dass ein Freund sich einer Chemotherapie unterziehen muss, resultiert daraus vielleicht nicht unmittelbar Gefühlsansteckung, doch Sie können sich vorstellen, wie er sich fühlt, indem Sie sich an eine Lebensmittelvergiftung mit Übelkeit und Erbrechen erinnern, was Ihre Gefühle beeinflussen wird. Nach der Lektüre eines Buchs von Carl Rogers könnte ein Psychologe versuchen, die Körperhaltung eines Patienten absichtlich nachzuahmen, und diese willkürliche Nachahmung wird seine Körperhaltung und seine Gefühle beeinflussen. 47
Bewusstes Denken kann auch Gesichtsmimikry und Gefühlsansteckung beeinflussen. Wie Untersuchungen gezeigt haben, verringert das Wissen, dass man mit jemandem konkurriert, Gefühlsansteckung und Gesichtsmimikry. Experimente, in denen die Teilnehmer aufgefordert wurden, Gesichtsausdrücke zu übertreiben oder zu unterdrücken, führten zu verstärkten oder gedämpften emotionalen Erlebnissen.
Wir nehmen an, dass sich die Gefühle verschiedener Personen durch diese Mechanismen angleichen. Doch was für Prozesse finden konkret in unserem Gehirn statt, wenn wir die Emotionen anderer Individuen miterleben? Das System der Spiegelneuronen verwandelt Handlungen, die wir beobachten, in eine motorische Repräsentation ähnlicher Handlungen. Ist eine Erklärung von Gesichtsmimikry und Gefühlsansteckung möglich durch die Existenz ähnlicher Neuronen in Regionen, die für unsere Gesichtsausdrücke oder Gefühlsbewegungen zuständig sind?
Mitempfinden von Ekel
17. Juli 2002, Marseille: Ein eigentümlicher Geruch entströmt Jean-Pierre Royets Renault Espace – irgendetwas zwischen Bananenschale und verfaulten Eiern. Mein Freund Bruno Wicker und ich helfen ihm, Kisten voller Plastikflaschen in ein kleines Gebäude neben dem Krankenhaus zu schleppen, wo sich ein Magnetresonanztomograf befindet. »Qu’est-ce qui pue comme ça?«, fragt uns der MRT -Techniker. »Was stinkt so grässlich?«
Royet grinst mich an. Fast ein Jahr zuvor saßen hier mein Kollege Bruno und ich auf einer Mauer, von der wir aufs Mittelmeer blickten, und planten ein Experiment zum Nachweis von emotionalen Spiegelneuronen. Wir promovierten beide in St. Andrews, aber ich war nach Parma gegangen, um meine Arbeit über Affen fortzusetzen, und Bruno nach Marseille, um sich f MRT -Studien mit menschlichen Versuchsteilnehmern zu widmen, wobei es ihm in erster Linie um Emotionen ging. Da ich mich auch für Emotionen interessierte und da wir in Parma keinen MRT hatten, schien es mir eine gute Idee zu sein, Bruno in Marseille zu besuchen.
»Was wir brauchen«, hatte ich an diesem sonnigen Nachmittag zu Bruno gesagt, »ist ein Experiment, bei dem wir einen Teilnehmer in den Scanner legen, eine Emotion auslösen, um die Hirnregionen messen zu können, in der die Emotion empfunden wird, und diesem Teilnehmer dann die
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