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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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Wir alle haben schon erlebt, dass uns das Schluchzen oder der Tonfall eines Telefonpartners veranlassen kann, seine Gefühle so stark und heftig zu teilen, als säße er vor uns. Der Umstand, dass gemeinsame Schaltkreise multimodal sind, das heißt zwei oder mehr Sinnesmodalitäten betreffen, trägt zum Verständnis dieses Phänomens bei. Für das Gehirn verwandeln sich verschiedene sensorische Informationen in einen einzigen Komplex sozialer Kognition – unser eigenes Erleben ähnlicher Handlungen und Gefühle. Die Unterschiede zwischen Telefonanrufen und Begegnungen sind dann eher quantitativer als qualitativer Art, weil sich bei einem persönlichen Treffen die Informationen aus visuellen, akustischen und taktilen Sinneswahrnehmungen zu einem intensiveren Mitempfinden addieren können, doch Laute al lein vermögen mittels der gleichen Mechanismen eine ähnliche, wenn auch manchmal schwächere Gemeinsamkeit zu erzeugen.
    Wir müssen Emotionen empfinden, um uns in die anderen einfühlen zu können
    Entscheidend für unser Konzept eines gemeinsamen Schaltkreises für Ekel ist nicht nur, dass die Insel an der Erkennung von Ekel bei anderen beteiligt ist, sondern auch die Theorie, dass die Insel notwendig ist, um selbst Ekel zu empfinden. Daher ist zu erwarten, dass die Schädigung von NK s Insel auch sein eigenes Ekelempfinden beeinträchtigt haben muss.
    In einem abschließenden Experiment gab Andy NK einige Testbögen, auf denen er die Intensität seiner Emotionen angeben konnte. Nach seiner Empfindung von Furcht oder Zorn gefragt, ließ er in seinen Antworten erkennen, dass er sie in normalem Maße empfand. Dann sollte er in verschiedenen Situationen angeben, wie groß sein Ekel sei. Beispielsweise lautete eine Frage auf dem betreffenden Testbogen, wie eklig er es fände, wenn er auf eine öffentliche Toilette ginge und feststellen müsste, dass der Benutzer vor ihm Durchfall gehabt und seine übel riechenden Exkremente über den Toilettensitz und die Wand verteilt hätte. NK gab an, dass er in diesem Fall überhaupt nicht angeekelt wäre. Sein Ekelempfinden war offenkundig verringert.
    Von diesem Ergebnis fasziniert, fragte sich Andy, ob NK überhaupt wisse, was Ekel sei, und bat ihn, sich Situationen auszumalen, in denen andere Menschen angeekelt wären. Mühelos ersann NK plausible Szenarien und zeigte damit, dass er zwar theoretisch wusste, was Ekel ist, dass aber seine eigene Fähigkeit, dieses Gefühl zu erleben und zu erkennen, beeinträchtigt war. Abstraktes Wissen reicht nicht aus, um unsere soziale Welt zu verstehen: Unsere Intuition ist von entscheidender Bedeutung.
    Ralph Adolphs und seine Kollegen beschrieben in Iowa, rund sechseinhalbtausend Kilometer entfernt, einen verblüffend ähnlichen Patienten. 53 Dieser Patient, »Mr. B.« genannt, hatte unter einer Herpes-simplex-Enzephalitis gelitten. Seine Läsion, sehr viel umfangreicher als bei NK , betraf neben der Insel noch weitere große Hinreale. Infolgedessen litt er unter hochgradiger Amnesie und konnte keine neuen Erinnerungen anlegen. Bei jedem Treffen musste Ralph sich wieder mit Mr. B. bekannt machen.
    Eingehend untersuchte Ralph Mr. B.s Fähigkeit, Ekel zu empfinden und zu beobachten. Er erzielte die gleichen Ergebnisse wie Andy bei NK . Mr. B.s Möglichkeit, Ekel zu erkennen oder bewusst zu erleben, war erheblich eingeschränkt. Im weiteren Verlauf testete Ralph, inwieweit Mr. B. beim Schmecken Ekel empfinden konnte. 54 Er bot Mr. B. zwei verschiedene Getränke an – das eine Salzwasser, das andere Zuckerwasser – und forderte Mr. B auf, beide zu kosten. Mr. B. probierte die Zuckerlösung, sah angenehm berührt aus und sagte, sie sei köstlich. Dann kostete er die Salzlösung, lächelte und sagte, sie sei köstlich. Mr. B.s Unfähigkeit, unangenehme Geschmackserlebnisse bewusst wahrzunehmen, entspricht der These, dass die Insel entscheidend für die Verarbeitung von ekelhaftem Geschmack und Geruch ist.
    Anschließend gab Ralph etwas Lebensmittelfarbe in die Getränke, sodass die Salzlösung rot und die Zuckerlösung grün wurde. Mr. B. musste beide Lösungen probieren und dann entscheiden, welche er weiter trinken wollte. Obwohl Mr. B. nach dem Kosten beider Getränke ein erfreutes Gesicht machte, beschloss er immer, die grüne, die Zuckerlösung, weiter zu trinken. Dann fragte Ralph ihn, ob er nicht die rote (salzige) Lösung noch einmal probieren wolle, was Mr. B. nachdrücklich ablehnte. Ralph forderte Mr. B. auf, beide Lösungen zu

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