Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
Vom Netzwerk:
Worte
    Wir alle wissen, dass man von einem guten Roman tief gerührt sein kann. Verglichen mit der visuellen Wahrnehmung dessen, was andere tun und fühlen – bei Tieren ist das seit Jahrmillionen gang und gäbe –, ist das Schreiben eine junge Erfindung, nicht älter als zehntausend Jahre. Wie es das Gehirn anstellt, uns mittels dieser neuen Erfindung ein so tiefes Gefühl der Rührung einzuflößen, ist eine Frage, die Mbemba und ich zu beantworten suchten. Insbesondere wollten wir wissen, ob geschriebene Geschichten in irgendeiner Weise die gleiche Hirnregion ansprechen wie der Anblick von Emotionen anderer Leute. Wir wählten die Versuchspersonen, die im vorangehenden Experiment Ekel und Vergnügen bei anderen und bei sich selbst erlebt hatten, um sie dieses Mal kleine Texte lesen zu lassen. In einem hieß es: »Als Sie sich umwenden, um zu sehen, wer an Ihrer Schulter lehnt, blicken Sie in das abstoßende Gesicht eines Obdachlosen. Bemüht, sich von seiner aufdringlichen Nähe zu befreien, können Sie einen flüchtigen Blick auf sein entzündetes Zahnfleisch und seine verfaulten Zähne werfen, bevor er die Augen verdreht. Der Kerl krümmt sich zusammen und entleert den gesamten Inhalt seines kranken Magens auf Sie und Ihre Kleidung! Von oben bis unten sind Sie mit Erbrochenem bedeckt, den halbverdauten Resten des verdorbenen Fleischs, das er aus den Mülltonnen auf der anderen Straßenseite geholt hat. Es ist lange her, dass Ihnen so übel war. Sie fühlen, wie sich Ihr Magen zusammenzieht. Dann spüren Sie ein hartes, fleischiges Stück seines Erbrochenen in einem Mundwinkel …« Wir maßen Aktivität in dem Teil der Insel, dessen Aktivität wir zuvor bei unseren Versuchsteilnehmern gemessen hatten, wenn sie angeekelte Gesichtsausdrücke anderer sahen oder selbst unangenehme Geschmackserlebnisse hatten. Zu unserer Verblüffung wurde diese selbe Region bei der Lektüre so ekelerregender Texte heftig aktiviert – und zwar in weit höherem Maße als bei einer emotional neutralen Geschichte. 26 Dann untersuchten wir mit der sogenannten psychophysiologischen Interaktionsanalyse ( PPI ), welche Gehirnregionen die Aktivität in der Insel unserer Versuchspersonen ausgelöst haben könnten, während sie die Geschichten lasen beziehungsweise beobachteten, wie andere ihr Gesicht angeekelt verzogen. Zwar zeigte die Insel in beiden Fällen die gleiche Aktivität, es stellte sich jedoch heraus, dass diese durch jeweils andere Hirnregionen ausgelöst worden war. Wenn die Gesichtsausdrücke anderer beobachtet wurden, war der Auslöser der prämotorische Kortex, der die beobachteten Gesichtsausdrücke spiegelte. Beim Lesen wurde die Aktivität durch Regionen hervorgerufen, die bekanntermaßen für die Sprachverarbeitung zuständig sind, etwa das Broca-Areal und den Schläfenpol. Die Insel scheint also eine gemeinsame Arena für Emotionen zu sein. Irgendwie leitet das Gehirn die verschiedenen Informationen diesem Treffpunkt zu, egal, ob es sich um die evolutionär älteren, direkt beobachteten oder die neueren, schriftlich niedergelegten Daten handelt. Der Mechanismus, der für eine für ihre eigenen Emotionen verantwortliche Region verantwortlich ist, während Sie den Gefühlsausdruck anderer beobachten, war noch allgemeiner, als wir ursprünglich angenommen hatten.
    Nur wer mir gleicht, erkennt mich ganz
    Im Allgemeinen wird angenommen, Empathie sei eine unteilbare Eigenschaft: Der Mensch sei entweder mehr oder weniger empathisch. Wenn wir die Persönlichkeit einer Person beschreiben, kommen wir kaum auf die Idee, einzelne Empathiebereiche zu beschreiben. Dabei scheinen unsere Experimente dafür zu sprechen, es zu tun.
    In unseren Experimenten über Aktivitätsgeräusche und Gesichtsausdrücke hatten wir beobachtet, dass Teilnehmer mit höheren Empathiewerten entweder ihren prämotorischen oder ihren insulären Kortex – je nach Experiment – stärker aktivierten. Eine genauere Analyse von Davis’ Fragebogentest verdeutlicht, dass verschiedene Aspekte der Empathieskala mit prämotorischer und insulärer Aktivität korrelieren. 14 Wenn die Versuchsteilnehmer dem Geräusch von Handlungen lauschten, war die prämotorische Aktivität stärker bei Individuen, die auf der Subskala »Perspektivenübernahme« des Fragebogens hohe Werte erzielten. Die Subskala enthält Aussagen wie: »Manchmal versuche ich, meine Freunde besser zu verstehen, indem ich mir vorstelle, wie die Dinge aus ihrer Sicht aussehen mögen.« Andererseits

Weitere Kostenlose Bücher