Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
anderer, dass Gebrauchtwagenhändler nicht immer vertrauenswürdig sind. Unser bewusstes Denken wirkt bei der Entscheidungsfindung mit unseren empathischen Intuitionen zusammen und verschafft uns die Möglichkeit, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, sodass wir nicht auf Versuch und Irrtum angewiesen sind.
Zum Verständnis anderer sind Denken und Intuition erforderlich
Während ich mich bislang nur mit gemeinsamen Schaltkreisen und intuitiver sozialer Kognition beschäftigt habe, gibt es zahlreiche Forscher, die sich der anderen Seite der sozialen Kognition angenommen haben, das heißt der Frage, wie wir bewusst über die Geisteszustände anderer nachdenken. Weitgehend unerforscht blieb das Problem, wie Intuitionen mit Gedanken wechselwirken. 114
Beginnen wir mit unseren eigenen Erfahrungen. Wenn ich Sushi esse, das nicht mehr ganz so frisch ist, wie es sein sollte, aktiviere ich zunächst prämotorische und motorische Regionen, die ich zum Essen brauche, und erst später, wenn die Lebensmittelvergiftung einsetzt, nehmen somatosensorische und insuläre Regionen meinen veränderten Zustand wahr und lösen Übelkeit aus. Zunächst kann ich mich möglicherweise auch weiterhin auf meine Arbeit konzentrieren, doch später nimmt die Übelkeit meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und ich horche in mich hinein, um zu begreifen, was mir fehlt.
Vielleicht fragen Sie sich, was bei dieser Selbstbeobachtung im Gehirn geschieht. Dazu können Sie selbst ein kleines Experiment durchführen. Setzen Sie sich bequem hin und versuchen Sie, Ihren Herzschlag zu fühlen, ohne Hand oder Finger auf das Herz oder den Puls zu legen, denn dann würden Sie keine Selbstbeobachtung mehr betreiben, sondern nur noch ein externes Ereignis registrieren, nicht anders, als wenn Sie den Puls eines anderen Menschen fühlen würden. Sitzen Sie einfach da, und lauschen Sie auf die inneren Empfindungen Ihres Körpers. Hugo Critchley und seine Kollegen in London untersuchten, was geschieht, wenn sich Menschen in dieser Weise selbst beobachten. 115 Sie befestigten ein Pulsoximeter an den Fingern ihrer Versuchsteilnehmer und wandelten jeden Herzschlag in einen Ton um. In der Hälfte der Versuchsdurchgänge ließ er einen Zeitraum von einer halben Sekunde zwischen Herzschlag und Ton verstreichen. Die Teilnehmer im Scanner mussten sich beobachten und entscheiden, ob der Ton gleichzeitig mit ihrem Herzschlag erklang oder nicht. Es erwies sich, dass die anteriore Insel und der mediale präfrontale Kortex zwischen den beiden Hirnhälften selektiv aktiviert wurden, wenn die Teilnehmer in sich hineinhorchten, um ihren Herzschlag zu hören. Die betreffende Region in der anterioren Insel glich weitgehend derjenigen, die an dem Erlebnis und der Beobachtung von Ekel in unserem Experiment beteiligt war 57 , was den Gedanken nahelegt, dass zum Ekel in der Tat die Wahrnehmung unseres Körperzustands gehört (Ekel im Sinne von »mir wird schlecht«).
Nicht alle sind wir gleichermaßen zur Selbstbeobachtung fähig. Einige Menschen, die unter sogenannter Alexithymie (Gefühlsblindheit) leiden, haben große Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu erkennen und zu beschreiben. Sie spüren unter Umständen eine gewisse Ruhelosigkeit, sind sich aber nicht sicher, ob es sich um Ärger, Furcht oder Sorge handelt. Ausgeprägte Alexithymiker aktivieren Insel und medialen präfrontalen Kortex seltener als Menschen, die auf vertrauterem Fuß mit ihren Gefühlen stehen. 116
Entsprechend besteht mein Sushi-Erlebnis zunächst einmal aus einer Aktivität im motorischen, prämotorischen, somatosensorischen und insulären Kortex. Durch Selbstbeobachtung und Aktivität im medialen präfrontalen Kortex kann mich dieser Zustand veranlassen, über meine eigene Verfassung nachzudenken. Zunächst wird der Zustand also auf unterer Ebene repräsentiert, dann wird er zum Gegenstand einer bewussten Reflexion. Inwieweit mein Gehirn in der Lage ist, Repräsentationen unterer Ebenen in Gedanken zu verwandeln, hängt davon ab, wie alexityhm ich bin.
Was geschieht also, wenn wir den Zustand eines anderen Menschen wahrnehmen? Was ist, wenn ich einen Freund Sushi essen und grün werden sehe? Beobachte ich, wie er Sushi verspeist und mit der Übelkeit kämpft, so löst dieser Anblick mittels gemeinsamer Schaltkreise Aktivität in verschiedenen Regionen meines Gehirns aus – im insulären, prämotorischen, parietalen und somatosensorischen Kortex – so, als hätte ich selbst Sushi gegessen und verspürte
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