Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
jetzt Übelkeit. Ich fühle mich intuitiv und präreflektiv ein wenig wie er. Zusätzlich kann ich mich selbst beobachten, also die gleiche Vorgehensweise wählen, durch die ich mir über meine eigene Übelkeit klar geworden bin, die mir aber dieses Mal dazu dient, seine Übelkeit zu verstehen: Ich simuliere in mir einen Zustand, der den seinen spiegelt und Aktivität in meiner Insel 49, 57 und meinem medialen präfrontalen Kortex 117 auslöst, ganz so, als dächte ich über eigene Zustände nach.
Bewusstes Nachdenken über andere Menschen vollzieht sich also in zwei Phasen. Zuerst spiegeln wir ihre Zustände, dann verschaffen wir uns mittels Selbstbeobachtung Klarheit. Wir denken nicht mehr direkt über andere Menschen nach, sondern über ihr Bild im Spiegel unserer eigenen Zustände. Die Eleganz dieser These liegt darin, dass sie für das Nachdenken über andere keinen gesonderten Schaltkreis bemühen muss, sondern auf den zurückgreift, mit dem wir über uns selbst nachdenken, und daher auf all das Wissen verweisen kann, das wir über unsere eigenen Zustände und ihre Ursachen zusammengetragen haben. Ich weiß beispielsweise, dass es beim letzten Mal, als ich mich schlecht fühlte, am Essen lag, und kann mit Hilfe dieses persönlichen Wissens die Übelkeit meines Freundes interpretieren. Im Gegensatz zu den gemeinsamen Schaltkreisen für Handeln, Fühlen und Empfinden, von denen oben die Rede war, ist diese sozial-introspektive Phase viel bewusster – ich kann meine Gedanken über seinen Zustand fortlaufend kommentieren.
Nicht alles Mentalisieren – die Fähigkeit, die Gründe eigenen und fremden Verhaltens zu verstehen – ergibt sich aus dem Wirken gemeinsamer Schaltkreise. Manchmal müssen wir über Menschen nachdenken, die sich von uns unterscheiden. Wie im vorhergehenden Kapitel erwähnt, sind gemeinsame Schaltkreise in diesen Situationen irreführend. Dann unterdrückt unser Gehirn die Simulation und bedient sich einer anderen Form des Denkens.
Ein Experiment, das Jason Mitchell und seine Kollegen an der Harvard University durchgeführt haben, untermauert die Annahme, dass wir zwei Möglichkeiten haben, andere Menschen zu verstehen: eine, die auf Simulation beruht, und eine, die ohne auskommt. 117 Die Versuchsleiter zeigten ihren Probanden Fotografien zweier fiktiver Protagonisten nebst einer kurzen Beschreibung von jedem. Von dem einen hieß es, er habe liberale gesellschaftspolitische Ansichten und nehme an diversen Aktivitäten teil, die typisch für Studenten an geisteswissenschaftlichen Colleges im Nordosten der Vereinigten Staaten seien. Der andere wurde als fundamentalistischer Christ beschrieben, der zahlreiche von religiösen und republikanischen Gruppen organisierten Veranstaltungen an einer Universität im Mittleren Westen aufsuche.
Während des Scans erblickten die Teilnehmer eines der beiden Fotos und eine Aussage wie »Ich freue mich darauf, zu Thanksgiving nach Hause zu fahren«, »Ich habe ein kleines Auto ausschließlich aus ökologischen Gründen« oder »Ich halte kulturelle Vielfalt für ein wichtiges nationales Anliegen«. Die Teilnehmer mussten entscheiden, inwieweit die betreffende Person mit der Aussage einverstanden wäre. Und in einem Drittel der Versuchsdurchgänge sollten die Teilnehmer angeben, inwieweit sie selbst mit der Äußerung übereinstimmen würden.
Einige der Teilnehmer identifizierten sich mit dem liberalen Charakter, andere fühlten sich eher zu der konservativen Figur hingezogen. In allen Fällen bestimmt die wahrgenommene Ähnlichkeit das Muster der Gehirnaktivität. Beide Teilnehmergruppen aktivierten eine ventrale Region des medialen präfrontalen Kortex auf die gleiche Weise, egal, ob sie an den ihnen ähnlichen anderen oder an sich selbst dachten . Diese ventrale Region scheint zuständig zu sein, wenn es darum geht, Menschen durch den oben beschriebenen Simulationsprozess zu verstehen. Beim Mentalisieren über den ihnen unähnlichen Protagonisten deaktivierten sie diese ventrale Simulationsregion und verließen sich vollständig auf eine weiter dorsal gelegene Region, die wohl für abstraktes Denken zuständig ist. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass bei uns tatsächlich zwei Regionen für soziale Kognition zuständig sind. Eine eher ventral gelegene simuliert Individuen, die uns ähnlich sind, indem sie sich an unseren eigenen Meinungen, Handlungen, Sinneswahrnehmungen und Gefühlen orientiert und uns auf diese Weise wohl ein Höchstmaß an
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