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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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Erkenntnissen über andere Menschen vermittelt. Allerdings hängt ihre Wirksamkeit von dem Ausmaß an Einstimmung auf andere (Empathie) und auf uns selbst (Alexithymie) ab. Die eher dorsal gelegene Region dagegen ermöglicht uns, über die inneren Zustände anderer zu reflektieren, ohne Rückgriff auf das, was wir über uns selbst wissen. Die abstrakte Natur dieses Prozesses sorgt dafür, dass unsere Gedanken einerseits nicht dem Einfluss anderer unterliegen, anderseits aber auch frei von egozentrischer Voreingenommenheit bleiben. Unser Gehirn scheint zwischen den beiden Möglichkeiten hin- und herzuwechseln, je nachdem, wie verschieden wir uns von dem Menschen fühlen, mit dem wir es zu tun haben. XVI Wenn wir uns an die weiter dorsal gelegene Region halten, müssen wir leider auf zahlreiche im Gedächtnis gespeicherte Annahmen über andere Menschen zurückgreifen (z. B. »Gebrauchtwagenhändler sagen nicht immer die Wahrheit«), und diese Regeln werden nie so gründlich sein wie unser Wissen über uns selbst.
    Der Unterschied zwischen bewusster Reflexion und automatischer Intuition lässt sich am besten im Vergleich mit dem Autofahren erläutern. Während der ersten Fahrstunden müssen wir uns außerordentlich konzentrieren, sodass es uns fast unmöglich erscheint, alles gleichzeitig zu beachten. Die grundlegenden Verrichtungen nehmen uns völlig in Anspruch und lassen keinen Raum für zusätzliche Gedanken. Nach den Fahrstunden sind wir völlig erschöpft. Dieser Zustand höchster Konzentration ähnelt den expliziten Prozessen, auf die wir bei dem Versuch angewiesen sind, die Geistesverfassung von Menschen einzuschätzen, die uns unähnlich sind, daher ist es nicht verwunderlich, dass das Zusammenleben mit einem Partner, den wir intuitiv kaum verstehen können, so anstrengend ist wie eine erste Fahrstunde. Sobald wir erfahrene Autofahrer sind, laufen diese grundlegenden Prozesse automatisch ab, sodass wir genügend freie geistige Kapazitäten haben, um uns beim Fahren unterhalten oder potenzielle Verkehrsrisiken vorhersehen zu können. Die soziale Intuition der Simulation ähnelt dieser Routine, weil sie so automatisch abläuft, dass wir uns dabei entspannen oder sogar noch zusätzliche Überlegungen zu anderen Menschen anstellen können, um unser soziales Handeln noch besser auf sie abzustimmen.
    Während unserer Entwicklung scheint die intuitive Simulationsregion sehr viel früher zu arbeiten als die abstrakte dorsale Region. 119 Noch bevor Kinder sprechen lernen, entwickeln sie eine Vorliebe für ein neues Spielzeug, wenn sie sehen, dass die Mutter freudig darauf reagiert, und eine Abneigung, wenn sie furchtsam reagiert, was beweist, dass ihre gemeinsamen Schaltkreise bereits eine »Ansteckung« mit den Gefühlen anderer ermöglichen. 120 Doch erst im Alter von vier bis sechs Jahren lernen wir, dass andere Kinder möglicherweise Überzeugungen und Gedanken haben, die sich von den unseren unterscheiden. Ob ein Kind versteht, dass andere Menschen ihre eigenen, unabhängigen Gedanken haben, lässt sich mit dem sogenannten False-Belief-Test feststellen. 121 Dabei werden dem Kind einige kurze Bildfolgen vorgelegt, die den kleinen Jungen Maxi und seine Mutter zeigen. Maxi hat eine Tafel Schokolade und legt sie in einen blauen Schrank, bevor er hinausgeht. Jetzt kommt seine Mutter herein und legt die Schokolade in eine grüne Schublade. Als Maxi zurückkommt, verlangt er nach seiner Schokolade. Das Kind, das die Bilder betrachtet, wird gefragt: »Wo wird Maxi zuerst nach der Schokolade suchen?« Das Kind muss lediglich zeigen, wo Maxi nachschauen wird. Kinder ab fünf Jahren zeigen auf den blauen Schrank, weil Maxi fälschlich meint (falsely believes) , die Schokolade befinde sich dort.
    Kinder unter vier zeigen häufiger auf die grüne Schublade, weil sich die Schokolade dort tatsächlich befindet. Der Unterschied in den Reaktionen lässt darauf schließen, dass Kinder irgendwann während des fünften Lebensjahrs die Fähigkeit entwickeln, das eigene Bewusstsein, das um den neuen Aufenthaltsort der Schokolade weiß, von Maxis Bewusstsein zu trennen, das die Schokolade immer noch dort wähnt, wo er sie hingelegt hat.
    Autistische Kinder scheinen bei der Simulation wie der Fähigkeit, das Bewusstsein anderer als von dem eigenen getrennt zu begreifen, Defizite aufzuweisen. Wir haben bereits gesehen, dass sie mit der spontanen Imitation Probleme haben. Hinzu kommt, dass Autisten mit acht Jahren, wenn es für normale

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