Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Morgen um fünf Uhr aufstehen kann, um schwimmen zu gehen. Der Grund ist ganz einfach, dass wir nie erlebt haben, was für ein wunderbares Gefühl es ist, um acht Uhr morgens wach zu sein und zu spüren, wie unser Körper selig in einer Flut von Endorphinen badet. Ohne diese Erfahrung ist uns der intuitive Zugang zu den Gründen, warum der andere so handelt, versperrt. Oder wir werden zum Abendessen eingeladen und bekommen nur Bier zu trinken, was uns intuitiv zu der Annahme bringt, unser Gastgeber lege keinen besonderen Wert auf unseren Besuch, da er es noch nicht einmal für nötig hält, einen vernünftigen Wein zu kaufen – und das nur, weil wir seine Leidenschaft für dieses seltene belgische Bier nicht teilen, für dessen Einkauf er eine Fahrt von zwei Stunden auf sich nimmt. In Bulgarien könnten wir zu der Überzeugung gelangen, dass wir es mit äußerst negativen Leuten zu tun haben, die auf jeden unserer Vorschläge mit einem Kopfschütteln reagieren, nur weil wir ihr motorisches Programm nicht verstehen, nach dem Kopfschütteln Ja heißt und Kopfnicken Nein. Soziale Intuition wird immer zu sehr treffenden Schlussfolgerungen führen, wo Menschen sich ähneln, und zu wachsenden Missverständnissen, wo Menschen sich unterscheiden. Wie für die Gestaltung von Beziehungen sind wir auch für die erfolgreiche Ausübung sozialer Fertigkeiten auf Intuition angewiesen, können aber flexibel zu anderen Formen der Interpretation wechseln, wenn wir Grund zu der Annahme haben, dass die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, anders sind.
Anhand der gemeinsamen Schaltkreise können wir erklären, warum wir bestimmte Sozialkontakte als vertraut und entspannt und andere als fremd und steif empfinden. Immer wenn wir mit unserer Intuition gut zurechtkommen, verlassen wir uns auf gemeinsame Schaltkreise. Diese verknüpfen die sozialen Signale des anderen – seine Gesichtsausdrücke, Gestik, Handlungen und so fort – mit einem Empfinden dafür, was in ihm vor sich geht, ohne unsere bewusste Aufmerksamkeit zu beschäftigen. In den Fällen, in denen wir uns auf abstrakte Regeln verlassen (»Denk dran, dass in Bulgarien die Gesten für Ja und Nein umgekehrt zu sein scheinen«), müssen wir unsere Intuition unterdrücken und sie durch kognitive Aspekte – Wissen und Kenntnisse – ersetzen, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen. In solchen Beziehungen wird die innere Anspannung spürbar sein, sie werden uns unbehaglicher und anstrengender vorkommen. Jeder Mensch mit sozialer Kompetenz wird bei der Interaktion mit anderen Menschen sowohl Intuition als auch Kognition nutzen, wobei jedoch unsere Intuition eine bevorzugte Rolle spielt. Das gelegentlich im Verhältnis zu einem Menschen beschworene Gefühl, dass »die Chemie stimmt«, spiegelt wahrscheinlich wider, in welchem Maße unsere gemeinsamen Schaltkreise die Möglichkeit bieten, uns in den anderen mühelos einzufühlen – und damit, in welchem Maße wir ihm gleichen.
Das Spiegelsystem kann lügen: Konsequenzen für Therapeuten
Auch in der psychotherapeutischen Praxis ist Intuition ambivalent. Einerseits ist es wichtig, dass sich ein Therapeut in die Handlungen und Empfindungen eines Patienten einfühlen kann, und deshalb wird er den Patienten ermutigen, sich zu öffnen. 47 Wie wir bei der Erörterung von Paarbeziehungen gesehen haben, können gemeinsame Schaltkreise tatsächlich wertvolle Erkenntnisse über andere Menschen liefern, doch das gilt nur insofern, als der Therapeut dem Patienten in diesem besonderen Aspekt gleicht. Natürlich haben Menschen einen umfangreichen Bestand an grundlegenden Gefühlen, Sinneswahrnehmungen und Handlungsmustern gemeinsam, insofern werden viele intuitive Erkenntnisse richtig sein. Andererseits sind sich Psychoanalytiker seit Freud bewusst, dass wir auch dazu neigen, bestimmte Aspekte unserer selbst fälschlicherweise auf die Menschen in unserer Umgebung zu projizieren. Ein Therapeut, der eine Scheidung hinter sich hat, läuft Gefahr, sein eigenes Problem auf einen Patienten in einer ähnlichen Situation zu projizieren. Solche Projektionen sind eine natürliche Tendenz gemeinsamer Schaltkreise. Ein Therapeut sollte sich immer darüber im Klaren sein, dass Intuition sehr wichtig ist, ihn aber auch dazu verführen kann, dem anderen die eigenen Zustände fälschlicherweise zuzuschreiben.
Schau in den Spiegel, und du siehst einen Menschen
Trotz gelegentlicher Missverständnisse ist unser intuitives Verständnis anderer relativ genau,
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