Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
weil Menschen viel miteinander gemein haben. Mehr als 99 Prozent unserer Gene sind identisch, unsere wichtigsten Gesichtsausdrücke ähneln sich, 88 und die meisten Menschen, denen wir begegnen, haben in ihrem Leben vergleichbare Grunderfahrungen gemacht wie wir (sie arbeiten, werden älter, atmen Luft, sprechen eine Sprache). Im Vergleich dazu ist im Umgang mit Tieren lange nicht so viel Verlass auf unsere Intuition, da Tiere weit weniger mit uns teilen.
Viele Signale scheitern an der Artgrenze. Wenn Affen beispielsweise grinsen, das heißt, die Mundwinkel hochziehen und die geschlossenen Zähne entblößen, ist das kein Anzeichen von Glück, sondern von ängstlicher Unterwerfung. Es signalisiert »Lass mich in Ruhe!«, »Ich habe Angst vor dir« und »Ich möchte lieber nicht mit dir kämpfen«. Unser ähnlichster Gesichtsausdruck ist ein Lächeln. Als ich anfing, mit Affen zu arbeiten, führte dieser Unterschied zu einer Fülle von Missverständnissen. Ich dachte, der Affe suche den sozialen Kontakt mit mir, obwohl er mich in Wirklichkeit davon abbringen wollte, und umgekehrt dürfte mein freundliches Lächeln für den Affen verwirrend gewesen sein.
Die Untersuchung gemeinsamer Schaltkreise zeigt uns, dass unser Gehirn beim Umgang mit anderen Tieren deren Verhalten mit unserem Verhalten verknüpft. Wir haben Versuchsteilnehmern Videofilme mit einem schwanzwedelnden Hund gezeigt und beobachtet, dass dieser Anblick ganz ähnliche Gehirnaktivierungen auslöste, wie sie stattfinden, wenn ein Mensch seinen Arm bewegt. Wenn wir Gesichtsausdrücke eines Affen sehen, aktivieren wir unser Spiegelsystem in Regionen, die normalerweise auf menschliche Gesichtsausdrücke reagieren. 20 Entsprechend aktivieren auch Affen Spiegelneuronen, wenn sie menschliche Gesichtsausdrücke wahrnehmen. 113 Diese Simulation führt dazu, dass wir unsere Ziele und Gefühle den Mitgliedern anderer Arten zuschreiben und diese zwangsläufig vermenschlichen. Daher müssen wir uns unsere artbedingten Wahrnehmungsverzerrungen bewusst machen und unsere Intuition in Frage stellen, wenn wir mit Tieren zu tun haben.
KAPITEL ZEHN Eine einheitliche Theorie der sozialen Kognition
Als mich einer meiner Lehrer in der Schule aufforderte, menschliche Erfahrung zu beschreiben, sagte er: »Beschreibe nicht nur, was du sehen oder hören kannst. Beschreibe, was du mit allen Sinnen erfährst.« Um zu schildern, was für ein Gefühl es ist, zum ersten Mal am Meer zu sein, muss ich den weiten Blick beschwören, die weißen Schaumkronen der windgepeitschten Wellen, das Geräusch der Kiesel, die von den Wellen an den Strand geworfen und wieder seewärts gezogen werden, aber auch die Empfindung des kalten Wassers an meinen Füßen und das Kribbeln, wenn es Wirbel zwischen meinen Zehen bildet, die Brise, die mir das Haar ins Gesicht weht, den Salzgeschmack im Mund, den Jodgeruch in der Nase, die Feuchtigkeit in der Luft. Genau das zeichnet bedeutende Dichter und Schriftsteller aus: die Fähigkeit, alle Sinnesmodalitäten unseres Daseins einzubeziehen, nicht nur das Sehen, sondern auch das motorische, somatosensorische und emotionale Erleben.
Mit Einzelzellableitungen und f MRT -Scans, Läsionsstudien und TMS , mit der ganzen Hightech-Ausrüstung der zeitgenössischen Neurowissenschaft stellen wir fest, dass das Gehirn in Wahrheit ein großer Dichter ist. Es liefert uns eine wunderbare Schilderung des geheimen Innenlebens der Menschen um uns her. Es versieht, was wir sehen und hören, mit einer alle Sinnesmodalitäten einbeziehenden Beschreibung dessen, was wir an ihrer Stelle tun, fühlen und empfinden würden. Wie jeder Dichter verfährt das Gehirn dabei in seinem ganz subjektiven und persönlichen Stil, der die tatsächlichen Gefühle und Absichten anderer im Spiegel unserer eigenen Erfahrungen zeigt, aber dennoch die Geisteszustände der Menschen mit intuitiver Lebhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit wiedergibt.
Die Empathie-Aspekte, die wir bislang gesondert erörtert haben, wirken zusammen und tragen gemeinsam zu unserer sozialen Kognition bei. Doch das Verstehen anderer ist mehr als nur die intuitive Poesie gemeinsamer Schaltkreise. Wenn uns ein Gebrauchtwagenhändler mit strahlendem Lächeln und begeisterter Stimme verkündet, wie wunderbar es wäre, einen rostigen alten Chevy zu besitzen, veranlassen uns unsere gemeinsamen Schaltkreise, seine Begeisterung zu teilen und das Auto zu kaufen. Auf einer bewussteren Ebene wissen wir aus den schlechten Erfahrungen
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