Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
aufgehört.
Wolfgangs Diabetes ist die Folge von Stress und Trauer, erfährt er von einem anderen Arzt. Dass sie jahrzehntelang mit Medikamenten vollgepumpt wurden, wissen sie. Aber niemand sagte ihnen, was diese enthielten. Auf anfängliche Fragen hieß es nur: »Das brauchst du.« Die Weigerung, die Medikamente zu schlucken, zog Zwangsmaßnahmen nach sich.
Die Information, welche Medikamente sie bekamen, verdanken die beiden Waltraud Schaffrik. Waltraud, das kleine Mädchen, das 45 Jahre zuvor mit den Worten »Das Graubrot wird nicht morgen, sondern übermorgen gebraucht« auf den Lippen unter den Weinranken der Pergola den Anna-Weg entlang zur Bäckerei auf dem Fundo ging. Waltraud hat inzwischen Bernd geheiratet, den kleinen Jungen, den sie damals an der Hand hielt. Waltrauds Vater, Alfred Schaak, musste bis Mitte der Achtzigerjahre in Deutschland bleiben und die Schäfer-Ladenkette leiten. Eva Schaak sah ihren Mann nach 1962 erst 1975 zu einem kurzen Besuch wieder. Zehn Jahre später, am 11. Oktober 1985, starb er ganz plötzlich in Siegburg mit deutlichen Anzeichen einer Vergiftung. Sein Leichnam wurde von Hartmut Hopp nach Chile gebracht und dort bestattet.
Bernd ist der Sohn des querschnittgelähmten Helmut Schaffrik, der Paul Schäfer nach Chile folgte. Dort wurde auch er von seiner Familie getrennt, er wurde verlacht, missachtet und systematisch mit Elektroschocks misshandelt. Nur selten half ihm jemand, so wie Wolfgang Müller, der Helmut im Rollstuhl durch den Sand schob, wenn keiner guckte.
Mit 37 Jahren durfte Waltraud eine Ausbildung zur Krankenschwester beginnen. Diese Ausbildung brachte ihr viel Wissen, das ihr bis dahin vorenthalten worden war: woher die Babys kommen, zum Beispiel. Und wie man mit ihnen umgeht. Eines Tages sagte die Dozentin im Säuglingspflegekurs: »Wenn ein Baby eine Spritze bekommen soll, geben Sie ihm die Spritze nie in seinem Bettchen. Nehmen Sie es aus dem Bettchen und gehen Sie dafürin den Nebenraum. Das Bettchen ist sein sicherer Ort, wo ihm keine Schmerzen zugefügt werden dürfen.« Da brach Waltraud weinend zusammen.
Zu ihrer Ausbildung gehörte auch Medikamentenkunde. Hierfür hatte Waltraud sich schon immer interessiert. Sie hatte die vielen Pillen gesehen, die die meisten der Colonia-Dignidad-Bewohner erhielten, hatte sich Farbe und Form eingeprägt, manchmal auch Namen sehen können. Sie hatte die schweren Veränderungen beobachtet, die die Medikamente bei den Menschen verursachten. Als sie nun im Unterricht die Namen der Pillen, deren Indikationen und Nebenwirkungen lernte, war sie zutiefst entsetzt: Ganz normale, gesunde Menschen hatten hochdosiert Medikamente gegen schwere psychische Krankheiten erhalten, Schizophrenie, Psychosen, Epilepsie etwa. Der einzige Grund: Es waren Menschen, die sich Schäfer widersetzten oder ihm aus dem einen oder anderen Grund nicht genehm waren.
Viele Kolonisten, die nach Deutschland zurückkehren, gehen zuerst nach Krefeld zu Ewald Franks »Freier Volksmission«. Dort erhalten einige dreihundert Euro als Startgeld und das Angebot der Taufe und einer neuen seelisch-geistigen Heimat. Gudrun und Wolfgang bekamen – wie andere auch – noch Küchenmöbel dazu.
Seit 2003 ist Ewald Franks »Freie Volksmission« in Krefeld bevorzugte Anlaufstelle für viele Rückkehrer aus der Colonia Dignidad. Dorchen Hopp besucht dort Gottesdienste. Sie ist Ehefrau von Hartmut Hopp, dem »Kronprinzen« von Paul Schäfer und »Außenminister« der Colonia Dignidad, in Chile rechtskräftig verurteilt wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch und 2011 vor Haftantritt nach Deutschland geflüchtet. Hartmut Hopp, der kleine Junge aus dem Film über die Anfänge der Privaten Socialen Mission in Siegburg, der »Struppi«, der Liebling von Paul Schäfer.
Ewald Frank, durch die Branham-Evangelisation 1955 zur Gründung eines eigenen Missionswerks inspiriert, war damals auch Paul Schäfer begegnet. Schäfer war mit sieben Anhängern dort. Dass Alfred Matthusen und Gerhard Mücke dabei waren, wussten Gudrun und Wolfgang. Aber von Walter Laubes Teilnahme erfahren sie erst im Oktober 2004. Bei einer großen Versammlung im Freihaus der Villa Baviera ruft Ewald Frank alle namentlich auf, die wie er 1955 an der Karlsruher Erweckung teilgenommen hatten. Man fotografiert ihn mit dieser Gruppe. Dann nennt er den achten Namen, Paul Schäfer, und Anwesende hören, wie Frank sagt: »Aber dessen Stimme passte eher auf den Kasernenhof.«
Damals versteckte sich Paul Schäfer
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