Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
der Colonia Dignidad ein anderes Wort für Folter. Ernst-Wolfgang Kneese wird bewacht, er muss am Tag rote, nachts weiße Kleidung tragen, sowie Schuhe mit auffallendem Sohlenprofil. Das erleichtert die Verfolgung, falls er wieder versucht zu fliehen.
Doch er gibt nicht auf. Die dritte Flucht im Februar 1966 gelingt ihm. Diese und die zeitgleiche Flucht von Wilhelmine Lindemann alarmieren zum ersten Mal eine größere Öffentlichkeit in Deutschland, Chile und in anderen Ländern und machen auf die Zustände in der deutschen Enklave in Chile aufmerksam. Von Entführung, sexuellem Missbrauch, Freiheitsberaubung und brutalen Schlägen auf dem »deutschen Mustergut« in Chile ist in den Berichten die Rede. Zum ersten Mal hört man auch von ungeklärten Todesfällen.
»Warum wurde Ernst-Wolfgang Kneese nicht schon bei seinen beiden ersten Fluchtversuchen geholfen?« Diese Frage stellt Bärbel Künz 56 und analysiert das Verhalten der Deutschen Botschaft in Chile. Etliche Flüchtlinge aus der Colonia Dignidad kommen bis zur Botschaft in Santiago. Doch dort greifen ihre Verfolger siewieder ab und bringen sie zurück zur Kolonie. Wie kann das geschehen?
Ernst-Wolfgang Kneese ist der bekannteste Überlebende der Sekte um Paul Schäfer. Ungezählte Artikel wurden über ihn geschrieben. Das Skript seines Lebens. Um Distanz zu den Erlebnissen zu bekommen und zu halten, hat er eine ironisch-sarkastische Version entwickelt, die den Schmerz und das Leid verbirgt. Und die es Zuhörern leichter macht, sich mit dem Thema zu beschäftigen, fast unterhaltsam. Es ist seine Entscheidung, dass die Qual hinter diesem Vorhang privat bleiben soll. Vielleicht hat ihm diese aktive Loslösung aus der Opferrolle auch ermöglicht, handlungsfähig zu bleiben und seine Kraft für den Kampf gegen Schäfer und für die Befreiung der Kolonisten zu nutzen. Und um die Verwicklung deutscher Politiker in die »Affäre Colonia Dignidad« immer wieder zum Thema zu machen. So wurde es zur Geschichte seines Sieges. Hier die Geschichte seiner dritten Flucht:
»Mir war bald klar, dass das eine vollständig geschlossene Veranstaltung war. Zu Schäfer hatte ich kein Vertrauen. Er hat mich belogen, und zwar grundsätzlich. Man kann mich nicht mit einer Lüge von der einen Seite der Welt auf die andere Seite der Welt transportieren, wo alles Versprochene überhaupt nicht existiert. Soll ich dann sagen, du hast mich eben gerade belogen, aber ich gebe dir noch mal fünfzehn Jahre die Chance, mir ein ehrliches Wort zu sagen und mich wieder dort hinzubringen, wo ich hergekommen bin? Ich sah nur die Möglichkeit, mich wie ein Dieb in der Nacht vom Acker zu machen und mein Glück in der Flucht zu suchen.
Ja, da liegst du dann mit der ganzen Gruppe schlafender Menschen in einem Galpon, musst aus dem Strohbett raus, dich anziehen, runterklettern, an allen Leuten vorbei, die Tür aufmachen, die Tür wieder zu, und dann über den Kies zum Pferdestall. Und keiner darf dich hören. Musst bei Nacht ein Pferd satteln und aufzäumen, mit Lumpen an den Hufen versehen, damit es keinen Krach macht im Kies, und dann mit dem Pferd geräuschlos außer Hörweite des Gebäudes.
Dann habe ich die Lumpen weggeschmissen, meine Aktentasche genommen, da hatte ich einen Kompass drin und anderen Kram. Aber ich hatte keinen Pass dabei. Dann bin ich mit dem Pferd zur Panamericana geritten. Plötzlich lande ich in einer riesengroßen abgezäunten Weide und finde nicht wieder heraus, weil es kein Tor gibt, ich finde jedenfalls keines. An einer Stelle ist eine tiefe Ausgrabung, eine Furt, durch die ich mit dem Pferd gerade eben durchkomme. Dann bin ich wieder draußen, kann über die Holzbrücke am Termas de Catillo und in den Feldweg nach Parral rein. Eine Hand für die Zügel, eine für die Aktentasche, reite ich durch diese Steppe aus mannshohen Sträuchern, wobei wir an einer Stelle Meinungsverschiedenheiten haben, das Pferd und ich. Das Pferd will links am Busch vorbei, ich will rechts am Busch vorbei. Das Pferd läuft alleine links am Busch vorbei, und ich hänge rechts in der Luft, mache dann den großen Aufprall, wobei das Pferd sich erschreckt, aber freundlicherweise stehen bleibt und wartet, bis ich wieder aufsitze.
Die Strecke nach Parral. Links und rechts stehen riesengroße Pappeln. Zwischen diesen Pappeln wachsen hohe, undurchdringliche Brombeerhecken. Zwischen diesen großen Brombeerhecken gibt es alle paar Kilometer eine Schneise, durch die man auf den Acker kommen kann oder zu
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