Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
nicht will. Die Ereignisse damals waren so schmerzlich und sind immer noch verworren. Eigentlich mag Gudrun sie gar nicht anschauen. Ihre Erinnerungen daran sind bruchstückhaft.
Vieles weiß sie nur, weil andere ihr davon berichtet haben und weil sie nach Jahrzehnten endlich die Zeitungsartikel aus dem Jahr 1966 lesen kann.
1966 aber kann sie keine Zeitungen lesen, obwohl sie noch in Deutschland ist. Zeitungen sind des Teufels. Zusammen mit ihrer Schwester Hilde arbeitet sie in den Geschäften der Schaak und Kuhn OHG . Die anderen Geschwister sind schon seit Jahren in Chile. Da sagt man ihr, dass sie ihren Vater im Gefängnis besuchen soll. Bevor Gudrun sich noch von dem ersten Schock erholt hat, folgt schon ein zweiter Auftrag: Die Schwestern sollen erreichen, dass die kleine Hedi, die Einzige, die noch bei Mama in Graz lebt, dieser auch entzogen wird. Der Antrag auf Sorgerechtsentzug ist mit den Namen von Hilde und Gudrun Wagner unterschrieben. Es bleibt bis heute unklar, ob die Schwestern tatsächlich unterschrieben haben. Manche der Unterschriften auf Dokumenten der Colonia Dignidad wurden gefälscht.
»Warum sollte das Sorgerecht entzogen werden? Ich weiß es bis heute nicht«, sagt Gudrun noch 2011.
Die Tour von Siegburg nach Graz ist ein Horrortrip. Hugo Baar am Steuer, Dorothea als Beifahrerin. Die Schwestern auf dem Rücksitz. Gudrun wird überschüttet mit Vorwürfen und Beschimpfungen. Tausend Kilometer, zehn Stunden Fahrt und keinen Moment Ruhe. Wenn sie widerspricht oder nicht antwortet, wird sie geohrfeigt.
Was ist der Sinn? Für das verrückte Verhalten der anderen sucht Gudrun immer noch die »Schuld« bei sich. Der Qual einen Sinn geben. Gudrun weiß nicht, warum die anderen auf ihr »herumdreschen mit Worten«. Vielleicht soll ich einfach keine Kraft mehr haben, denkt sie, mit meinen Eltern etwas zu besprechen. Ich könnte mich verplappern. Ich darf mich nicht verplappern. Was darf ich nicht erzählen? Ich darf nicht erzählen, was mit mir passiert ist. Unter keinen Umständen. Am besten, ich vergesse einfach, was mit mir passiert ist. Was ist überhaupt mit mir passiert?Ist doch gar nichts passiert. Es ist doch alles schön. Wenn sie bloß aufhören, mich zu beschimpfen. Auch wenn ich weine, hören sie nicht auf.
Am liebsten würde ich gar nicht aussteigen, denkt sie, als der Wagen im Hof des Gefängnisses in Graz angekommen ist. Aber ich muss. Da stehen meine Eltern. Ich kann sie kaum sehen, meine Augen sind so verquollen. Ich kriege nichts mehr über die Lippen. Ich kann nur weinen. Der Anblick von Papa und Mama zerreißt mir das Herz.
»Papa, es tut mir leid.«
Habe ich das gesagt? Ich kann doch gar nichts dafür. Wofür überhaupt? Mama weint, wir nehmen uns in den Arm. Ich bin nicht mehr fähig, irgendwas zu sagen.
So ist es richtig.
Beschuldigen und beschimpfen, laut, fordernd, anklagend ungerecht, stundenlanges Anschreien – das erleben alle, die in den Bannkreis von Paul Schäfers Gruppe geraten. Dass Frauen Hurengeister im Bauch haben, dass man ihnen den Teufel mit Schlägen austreiben muss wird so häufig geschrien, wie man sich anderswo Guten Tag wünscht.
Manche, die anfangs sanft waren wie Hugo Baar und Gerhard Mücke, den Ida Gatz in ihrer Schulzeit als »feinen, gebildeten Menschen« erlebt hatte, erleiden eine auffallende Vergröberung ihrer Persönlichkeit. Schäfer und Baar empfehlen anderen dieses schreiende, lang andauernde Beschuldigen als Methode, um sich durchzusetzen und andere zum Nachgeben zu zwingen oder sogar zum seelischen Zusammenbruch.
Noch heute wundert sich Gudrun, dass ihre Schwester während der langen Fahrt nach Graz schweigend neben ihr saß. Aber vielleicht tat sie das nicht, sondern fühlte sich genauso bedroht wie Gudrun. Eine Aussprache zwischen den Schwestern ist immer noch nicht möglich.
Allerdings sind 1966 alle österreichischen und viele deutsche Zeitungen voll von dem Fall der »Grazer Kinder im Sekten- KZ «. Leider trägt das nur mäßig zur Erhellung bei. Man könnte dieFrage nun einfach beiseitelegen – wäre da nicht die tiefere Frage der fehlenden Erinnerungen.
Fest steht, dass der Gärtner Wilhelm Wagner 1965 in Graz wegen »Blutschande« an zweien seiner Töchter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und 1967 vorzeitig entlassen wurde.
»Er ging freiwillig ins Gefängnis, weil er das alles einfach nicht mehr aushielt«, ist eine Lösung, mit der Gudrun heute gut leben kann. Wolfgang unterstützt diese Version: »Dann hatte er
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