Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
hochschwanger in Chile gelandet. Trotz ärztlicher Warnungen hatte sich Eva Schaak auf die Reise gemacht. Am 18. März 1962 brachte sie ein gesundes Mädchen zur Welt: Waltraud. Es war eine Geburt voller Komplikationen. Einen Monat später, am 16. April, wurde Bernd geboren.
Nach vier Wochen geben alle Mütter ihre Kinder an sogenannte Gruppentanten ab, die die Kinder verwahren. »In Obhut nehmen« kann man dazu nicht sagen. Doch Bernd und Waltraud kennen kein anderes Leben. Dies ist alles, was sie haben. Manchmal dürfen sie die Mütter sehen. Dann sitzen sie für kurze Zeit auf dem Schoß einer fremden Frau, von der sie wissen, dass es die Mutter ist. Einen emotionalen Bezug haben sie nicht zu ihr, auch keine Bindung.
Bindung zu den Eltern entsteht durch Kontakt. Hautkontakt, Blickkontakt, durch die Stimme, ganz am Anfang auch durch den Geruch. Verlässlicher, wiederkehrender Kontakt. Trost durch Berührung. Liebe. Doch für diese Kinder gibt es das nicht. Anlass dieser Begegnung mit der Mutter ist meist ein offizieller: ein Foto der Familie soll gemacht werden, um der Außenwelt, besonders in Deutschland, zu zeigen, wie normal hier alles ist, »um den Eindruck einer gesunden, fröhlichen und zufriedenen Familie zu machen«, wie Waltraud sagt. Die Aufnahmen müssen mehrmals wiederholt werden – meist gelingt den Kindern nicht auf Anhieb das geforderte Lächeln.
Die vierjährige Waltraud auf dem Schoß der Mutter, dieses Bild gibt es auch. Das vorgeschriebene Lächeln liegt auf dem Gesicht der Mutter, aufgetragen wie Rouge, die Tochter aber blickt ernst, vielleicht ist sie damit beschäftigt, nicht herunterzurutschen, denn die Mutter hält sie nicht fest, eine Umarmung gibt es nicht.Merkwürdig verkrampft liegt der Arm der Mutter auf dem Schoß der Tochter.
»Ich habe in meinem Leben keine Elternliebe und Geborgenheit kennengelernt, obwohl ich das Bedürfnis und die Sehnsucht danach hatte«, schreibt Waltraud vierzig Jahre später in ihrem »Selbstzeugnis«, wie viele Opfer der Colonia Dignidad es nach Schäfers Verurteilung verfasst haben. Und Bernd schreibt: »Ich bin ohne Eltern aufgewachsen und habe keine Liebe von Papa und Mama kennengelernt. Familienleben ist mir fremd. Schon nach drei Wochen wurde meine Mutter dazu gedrängt, mich an das sogenannte Kinderhaus abzugeben, wo alle Kleinkinder, Kinder, Jugendlichen und zum Teil auch schon halb erwachsenen Leute, je nach Geschlecht und Altersstufe, in Gruppen untergebracht wurden. Ich habe den größten Teil meines Lebens nur Gruppenleben kennengelernt mit system- und schäferfreundlichen Gruppentanten und später Gruppenbossen und fanatischen Erziehern an der Spitze.«
Doch die Gruppentanten sind kein Ersatz für Familienleben. Sie wechseln häufig; viele bleiben nicht einmal lange genug, dass man sich ihre Namen merken könnte. So entsteht keine verlässliche Bindung, die die Basis für freie Entfaltung im späteren Leben wäre. Selbstbewusstsein wird verhindert, denn unsichere Menschen sind leichter zu manipulieren.
Aber diese Generation weiß, wer ihre Eltern sind, sie kennt die eigenen Vor- und Nachnamen. Der Vater von Waltraud ist Alfred Schaak, er organisiert und verwaltet die Ladenkette der Sekte in und um Siegburg. Aus Sicht von Paul Schäfer hat das mehrere Vorteile. Einer davon ist die Aufspaltung der Familien, die Trennung der Kinder von den Eltern, die Trennung der Ehepartner voneinander.
Wie Schäfer dabei vorgeht, wird in seinem Umgang mit Bernd Schaffriks Vater deutlich. Eine spätere Zeugenaussage führt dies aus. 54 Der Vater von Bernd ist Helmuth Schaffrik. Als er Schäfer kennenlernt, lebt Helmuth Schaffrik mit seiner Familie als selbstständiger Kaufmann in der Nähe von Hamburg, »in gutenVerhältnissen, gut situiert … gepflegt … allerdings auf die Hilfe seiner Frau für die täglichen Verrichtungen angewiesen«. Helmuth Schaffrik war mit 21 Jahren an Kinderlähmung erkrankt und wurde durch eine falsch durchgeführte Penicillinbehandlung querschnittsgelähmt. Er sitzt im Rollstuhl. Dennoch macht sich der gläubige Baptist 1962 mit seiner hochschwangeren Frau und seinen sieben Kindern auf die Schiffsreise nach Chile. Auf Anweisung von Schäfer wird er dort sofort von Frau und Kindern getrennt, muss mit zwei Männern in einem Raum leben und darf seine Familie nicht sehen. Als Begründung sagt man ihm, »dass er sich so besser in die Situation hineinfinden« würde. Auch seiner Frau und seinen Kindern wird erklärt, dass er sich
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