Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
»besser in die Situation schickt, wenn er keine Besuche erhält«. Als Arbeitsplatz wird Bernds Vater ein Holzverschlag zugewiesen, in dem er als Schuster arbeiten muss. Dagegen wehrt sich Helmuth Schaffrik, der als erfolgreicher, gebildeter Kaufmann mit anderen Erwartungen ausgewandert ist. Doch er ist mittellos: Wie fast alle anderen hat er zuvor seinen gesamten Besitz auf Schäfer überschrieben. Für Paul Schäfer und die Führungsschicht der Colonia Dignidad ist »diese Auflehnung natürlich unbequem, da dies bei anderen Mitleid oder Sympathien hätte erwecken können«. Schäfers Befehl lautet: »Wir schocken ihn mal, dann ist das fleischliche Verlangen, mit seiner Frau zusammen zu sein, vergangen.«
Von 1963 bis mindestens 1966 werden die sogenannten »Behandlungen« mit Elektroschocks nach Zeugenaussagen in Abständen von vier bis sechs Wochen wiederholt. Es ist klar, »dass diese Behandlung so lange fortlaufen sollte, bis dieser Patient sich in sein Schicksal fügen würde«.
Von all dem ahnt Bernd nichts. Die Welten innerhalb dieser kleinen Enklave sind schon zu diesem Zeitpunkt streng getrennt. Bis 1966 leben Bernd und Waltraud in einer Welt, die Waltraud rückblickend als Paradies empfindet, an die Bernd sich jedoch kaum erinnert.
Ein Paradies mit Abgründen.
Vierzig Jahre später in Deutschland. Der Frühling beginnt, es ist noch kalt, aber die Sonne strahlt von einem blauen Himmel herab. Hand in Hand gehen Bernd und Waltraud durch Straßen der Stadt in Nordrhein-Westfalen, in der sie inzwischen wohnen. Aus einer Seitenstraße biegt ein Mann ein und kommt ihnen entgegen. An der Leine führt er einen Hund, einen gemächlich dahintrottenden alten Berner Sennenhund. Waltraud sieht ihn sofort. Schlagartig bricht ihr der Schweiß aus, in Panik klammert sie sich an Bernds Hand. Sie will weglaufen.
Das geschieht bei jedem Hund.
Plötzlich und ohne Vorwarnung ist der Abgrund wieder da, wie ein klaffender Riss bei einem Erdbeben direkt vor Waltraud in der Straße. Unten ist es dunkel, und sie droht hineinzufallen.
Es fühlt sich an, als wäre sie wieder vier Jahre alt und in Chile. Und Paul Schäfer hetzt seinen Schäferhund auf Menschen, die mit dem Rücken an der Wand stehen. Wütend bellt der Hund die Menschen an, wildes, sich überschlagendes Gebell, der Geifer fliegt ihnen an die Kleider. Nur Zentimeter sind seine Zähne von den Menschen entfernt. Schäfer hält den Schäferhund an der Leine. Er könnte die Leine auch loslassen. Die kleinen Mädchen sind Zeugen, sie selbst werden nicht angegriffen, aber die Drohung gilt auch ihnen.
Schäfer weiß nichts von Spiegelneuronen, Nervenzellen, die dafür verantwortlich sind, dass unser Gehirn dieselben Gefühle erzeugt, ob wir etwas nur sehen oder ob wir es selbst erleben. 55 Aber Schäfer weiß genau, wie man das Phänomen nutzt. Sich einzufühlen in andere ist sehr wichtig in der Colonia Dignidad, denn vielen ist sprechen streng verboten. Lange Zeit haben sie keine andere Form der Kommunikation als das Fühlen.
»Es war für meine Kinderseele etwas so Schreckliches«, sagt Waltraud, die heute noch Panik vor Hunden spürt, obwohl sie sich nicht erinnert, jemals gebissen worden zu sein. Aber die Einschüchterung muss oft geschehen sein. Wie schön wäre es, wenn ihr wenigstens von dieser frühen Phase nur die paradiesischen Seiten in Erinnerung geblieben wären.
Schnell holt sie diese schönen Seiten wieder in den Vordergrund. »Wir wuchsen auf wie eine kleine Horde Wilder. In Schluchten haben wir gespielt, sind auf Bäume geklettert, auch wenn uns das verboten wurde. Mit vier Jahren habe ich versucht zu klettern, mit fünf kam ich rauf, ich wollte unbedingt den Vögeln hinterher, und was die Jungs können, wollte ich auch können.«
Die ersten sieben Jahre ihres Lebens verbringen Waltraud und Bernd zusammen, sie und die anderen Kinder in ihrem Alter. Verglichen mit dem, was in den folgenden 35 Jahren geschieht, ist es das Paradies.
KAPITEL 12
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Die Flucht aus dem Paradies
Chile 1966
K napp ein Jahr hält Ernst-Wolfgang Kneese es aus in der »Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad«, bevor er im Juni 1962 zum ersten Mal versucht, aus dem Zwangslager zu entkommen. Er wird wieder eingefangen und zurückgebracht. Den zweiten Versuch unternimmt er ein Jahr später, am 26. September 1963.
Jeder Fluchtversuch wird mit drakonischen Maßnahmen bestraft: Schläge, Elektroschocks, Isolationshaft, verschärfte Zwangsarbeit. »Maßnahmen«, das ist in
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