Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
einem Haus. Wenn du dich diesen Weg entlangflüchtest und dir von hinten die Scheinwerfer im Nacken sitzen oder du unbeleuchtete Fahrzeuge hörst, dann kannst du weder nach links noch nach rechts weg. Du weißt nicht, wie viele Kilometer du noch reiten musst, oder hat er dich nach dreihundert Metern gleich am Arsch? Also muss ich mir immer den letzten Durchbruch merken, damit ich eventuell auf dem Absatz kehrtmachen kann, um dort zu verschwinden.«
Schließlich erreicht Ernst-Wolfgang Kneese die Panamericana, die berühmte Schnellstraße, die von Alaska bis Feuerland den gesamten amerikanischen Doppelkontinent durchläuft. Er bindet das Pferd am Zaun einer Tankstelle in Richtung Santiago fest, hängt noch einen Zettel dran, wem es gehört. Er ist kein Dieb. Dann trampt er. So kommt er ins vierzig Kilometer entfernte Chillán.
Dort nimmt eine Familie ihn auf. Sie geben ihm eine Orange zu essen. Er isst sie mitsamt der Schale. Es ist die erste Orange seines Lebens.
Nach dieser dritten Flucht, die einigen Wirbel in der chilenischen Presse macht, zeigt die Kolonie Ernst-Wolfgang Kneese wegen Pferdediebstahl, Falschaussage, Pressemanipulation und Homosexualität an. Auf Druck von Schäfer muss Wolfgang Müller eine Falschaussage machen: Kneese hätte ihn verführt. Nichts daran ist wahr. Wahr ist, dass dieser sah, wie Schäfer Wolfgang Müller vergewaltigte. Schäfer mag Zuschauer. Der chilenische Richter glaubt die Lüge und schickt Kneese für zwei Wochen ins Gefängnis.
Die Colonia Dignidad genießt hohes Ansehen und große Wertschätzung in der chilenischen Gesellschaft, bei den chilenischen Behörden und der Justiz. Im Krankhaus der Kolonie werden kranke chilenische Kinder der armen Landbevölkerung gepflegt, operiert, geheilt. Von den Eltern verlangt die Kolonie kein Geld. Geld für die Behandlungen bekommt sie vom chilenischen Staat.
Zu schrecklich scheinen dagegen die Geschichten, die Ernst-Wolfgang Kneese über die Kolonie erzählt, man mag sie nicht glauben. Seine Chancen, das Land auf legalem Wege zu verlassen, stehen daher schlecht. So flieht er nach seiner Freilassung auf Kaution illegal weiter über die Grenze nach Argentinien und von dort nach Deutschland.
Die Flucht von Ernst-Wolfgang Kneese lenkt zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Presse einiger Länder auf die Colonia Dignidad. Um Offenheit zu signalisieren, beschließt Paul Schäfer, drei seiner jungen Männer außerhalb der Kolonie studieren zu lassen: Hartmut Hopp, Günter Reuss und Hussain Siam. Hartmut Hopp beginnt Medizin zu studieren; Hopp bekommt von Schäfer im Laufe der Jahre viele Rechte, er darf reisen, sich frei außerhalb der Kolonie bewegen, sexuelle Beziehungen zu Frauen haben, bekommt Zugang zu Auslandskonten der Kolonie. Er ist derLiebling Schäfers, viele nennen ihn den »Außenminister« der Kolonie. Trotzdem bleibt er ein Getriebener, Zerrissener – soll er gehen oder bleiben?
Hussain hat schon einen Fluchtversuch hinter sich, als Schäfer ihn mit Günter Reuss zum Studium nach Los Angeles in den USA schickt. Er kehrt nie wieder in die Kolonie zurück.
KAPITEL 13
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Wilhelm Wagner
Österreich 1966
D ie Sache mit Gudruns Vater«, wie manche es nennen, spielt sich 1966 in Deutschland und Österreich ab. Zu diesem Zeitpunkt lebt Wolfgang Müller schon fünf Jahre in Chile. Ernst-Wolfgang Kneese hat seine abenteuerliche Flucht hinter sich, versteckt sich aber noch in Chile. Gudrun Wagner arbeitet in Siegburg zusammen mit etwa zwölf Sektenmitgliedern unter Führung von Hugo Baar und Alfred Schaak. Ida Ritz hat geheiratet und arbeitet als Hebamme in Düsseldorf; eine schwere Depression nach der dramatischen Ausreise ihrer Schwester Gertrud nach Chile hat sie inzwischen überwunden. Kontakt zur Privaten Socialen Mission in Siegburg hat sie nicht mehr. Und die beiden Vierjährigen, Waltraud und Bernd, gehen Hand in Hand im Sonnenschein unter Weinranken den Anna-Weg in Chile entlang und vertrauen ihrem Gedächtnis einen Satz an: »Das Graubrot wird nicht heute, sondern übermorgen gebraucht.«
Jeder, jede in einer Welt für sich.
Die Sache mit Gudruns Vater ist ein Krimi. Über diese Sache zu sprechen ist für Gudrun fast noch schwerer als über die Sache mit Alfred. Sie braucht viel Ruhe, Zeit und Kraft, um einen klaren Blick auf diese Ereignisse zu werfen und sie dann in eine entlegene Schublade des Gedächtnisses zu packen, die sie öffnen kann, wann immer sie will, die aber weder klemmt noch aufspringt, wenn Gudrun es
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