Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
die Wörter auswendig lernen: »Das Graubrot wird nicht morgen, sondern übermorgen gebraucht.«
Hand in Hand im Sonnenschein. Das Gefühl ist tief und überdeckt alles andere. Glückseligkeit nennt die Kleine von damals es heute.
Mit großen Schritten überholt ein Mann die beiden Kinder. Er hat rote Haare, so was hat sonst keiner, deshalb lachen die Kinder. Als er in sicherer Entfernung ist, ruft der Junge ihm hinterher: »Pfuscher, Pfuscher, Pfuscher!« So rufen die Erwachsenen den mit den roten Haaren immer, und sie sagen es in einem komischen Ton, sodass man lachen muss. Der Rote dreht sich um, und ein heißer Schreck durchfährt die Kinder: Die Großen schlagen, und der da ist stark. Weglaufen darf man nicht, der da hat lange Beine und erwischt einen sofort. Der Große kommt ein paar Schritte auf sie zu, dann geht er in die Hocke, sodass er auf ihrer Höhe ist, lächelt und sagt: »So heiße ich nicht. Mein Name ist Wolfgang. Wolfgang.«
Dann steht er auf und geht weiter seines Weges.
Wolfgang Müller ist nun zwanzig Jahre alt. Seine Tage sind ausgefüllt mit Arbeit. Seine kurzen Nächte immer mal wieder mit Schäfer. Seine Träume von Gudrun sind gefährlich. Schäfer versucht, seinen Jungen abzugewöhnen, beim Anblick von Mädchen und beim Gedanken an sie eine Erektion zu bekommen. Am besten denkt man nicht an Mädchen, am besten träumt man nicht mehr von Gudrun.
»Wolfgang«, sagt das kleine Mädchen, ihm immer noch hinterherstaunend, »Wolfgang«. Dann entsinnt sie sich ihres Auftrags: »Das Graubrot wird nicht morgen …«
»Er ist lieb«, sagt der Junge.
Als sie den Fußmarsch zur Bäckerei geschafft und den Raum betreten haben, ist niemand da, bei dem sie ihren Satz anbringen können. So klein sind sie, dass sie noch nicht einmal auf den Backtisch gucken können. Das Mädchen, etwas vorwitziger, langt mit dem Finger hoch und wischt über den Tisch. Ein braunes Pulver bleibt an ihren Fingern kleben. Es schmeckt süß und bitter. Kakao. Da erklärt sie ihrem Gefährten, was sie zu wissen meint: »Daraus wird Schwarzbrot gebacken, darum ist das Schwarzbrot so dunkel, weil da Kakao drin ist.«
Waltraud heißt die Kleine. Und das ist eine ihrer ersten Erinnerungen. Noch weiter zurück liegt eine andere: Etwa dreieinhalb ist sie, und eines Tages gelingt ihr, was ihr sonst so schwerfällt: morgens ganz schnell aus dem Bett zu springen. Wer zuerst rauskommt, wird auch zuerst von der Gruppentante gekämmt. Und kann eine Weile draußen warten, während die anderen fertig gemacht werden. Da steht sie nun vor dem Kinderhaus im Sonnenschein, mit schwarz-weißen Lackschühchen an den Füßen. In den Quillaja, den hohen Seifenrindenbäumen, sitzen die schwarzen Amseln und singen so süß, so tröstlich. Dieser Augenblick ist für Waltraud der Himmel auf Erden. Sie spürt ihn noch heute, nach über vierzig Jahren.
Bernd dagegen, der Junge an der Hand von Waltraud, erinnert sich heute kaum noch an die Zeit vor seinem achten Lebensjahr. Nur Urwald und Brombeerhecken sind ihm haften geblieben. Dichte Brombeerhecken, die wild um das Kinderhaus herumwachsen, in denen man spielen und sich verstecken kann. Natur und Spiel, das gehört zusammen. Anderes Spielzeug gibt es nicht. Doch diesen Satz muss man korrigieren: Anderes Spielzeug gibt es schon, aber nicht für die Kinder. Ihre Eltern haben große Mengen Kinderspielzeug aus Deutschland mit nach Chile gebracht, dürfen es den Kindern aber nicht geben. Auch in diesem Satz steckt noch ein Fehler: Auch Eltern gibt es für die Kinder nicht mehr; sie werden vor der Abreise nach Chile oder nach der Ankunft im Gelobten Land voneinander getrennt. Familien werden auseinandergerissen und nach Geschlecht und Alter sortiert. Nur die ganz kleinen Jungen und Mädchen arbeiten und spielen noch eine Weile miteinander.
So wird ihnen ein umgefallener Baum zum Auto, ein Ast zum Ganghebel oder zum Steuerknüppel; darauf klettern sie herum, machen Autogeräusche nach, die sie manchmal hören, Mädchen und Jungen zusammen. Und sie verstecken sich in den Brombeerhecken.
Wilde Katzen hocken ebenfalls dort in den Brombeerhecken, das weiß Bernd noch, manchmal jagen die Kinder die Katzen undlachen, wenn diese aufgescheucht auseinanderstieben. Und eine ganz alte Frau ist da auch, Oma Gerstetten heißt die.
Bernd Schaffrik und Waltraud Schaak gehören zur ersten Generation, die in der Colonia Dignidad geboren wird. Hineingeboren in Paul Schäfers Sekte. Ihre Mütter sind Ende Februar 1962
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