Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
bevor diese volljährig sind. Der Briefwechsel zwischen dem engagierten Anwalt Kornberger und dem Auswärtigen Amt in Wien liest sich bedrückend, und die Antwort der Beamten wirkt genauso desinteressiert wie die deutscher Behörden, denen es über Jahrzehnte nicht gelingt, in ähnlichen Fällen Hilfe zu leisten. Der Brief schließt mit den Worten: »Sollten die Eltern weiterhin an der Rückführung der drei Minderjährigen interessiert sein, wird um Mitteilung gebeten.«
Sollten sie interessiert sein.
Mit ausgefeilter Verzögerungstaktik und einem Bündel Lügen (ansteckende Krankheit, Suiziddrohung, verschwunden) gelingt es der »Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad«, der »Wohltätigen Gesellschaft«, das Verfahren so lange zu verschleppen, bis die Zwillinge 21 Jahre alt sind.
Mina Wagner ist erschöpft. Gleichzeitig muss sie weitere Versuche aus Siegburg abwehren, ihr das Sorgerecht für die jüngste Tochter, das einzige Kind, das ihr geblieben war, zu entziehen. Angeblich soll der Vater auch dieses Kind missbraucht haben.Dieser Antrag im Namen von Gudrun und Hilde wird schließlich abgelehnt.
Für Hedi ist diese Zeit ihrer Kindheit eine Zeit voller Angst. Bis sie fünf Jahre alt ist, hat sie sechs Geschwister. Plötzlich sind alle weg. Und der Vater auch. Wenn die Mutter das Haus verlässt, zum Einkaufen, zum Arzt, um einen Besuch zu machen, jedes Mal hat Hedi Angst, dass sie nicht zurückkommt. Dass sie ganz allein zurückbleibt. Für die Mutter ist es eine Zeit tiefer Scham: Aus den Zeitungen glaubt die ganze Stadt zu wissen, was in der Wagner-Familie los ist. Jeder Einkauf wird zum Spießrutenlaufen. Jeder Blick wird so gedeutet. Was sieht sie im Blick der anderen? Ist es Anteilnahme, Entsetzen, Verachtung? Ist der Blick freundlich, oder ist er hämisch?
Eine Zeit lang belauern Mitglieder der Sekte die Restfamilie. Immer wieder stehen dieselben Autos vor dem Haus, Leute gehen vor dem Haus auf und ab, schauen in die Wohnung. Es war eine begründete Angst. Später gibt Hugo Baar zu, dass er etliche Überwachungen »Abtrünniger« in Auftrag gegeben oder selbst durchgeführt hat.
Im folgenden Jahr wird Wilhelm Wagner aus dem Gefängnis entlassen. In überstürzter Flucht vor öffentlicher Aufmerksamkeit, nachbarlicher Neugier und sicher auch aus Scham wandert die kleine Familie nach Rhodesien aus. Dort kauft sie sich ein Haus, muss aber bald zurückkehren, da aus Panik und Uninformiertheit – bloß weg hier! – vorab kein Einreiseantrag gestellt wurde. So verlieren sie auch noch ihr Geld. In den Siebzigerjahren leben sie in einer kleinen dunklen Wohnung, nicht zu vergleichen mit dem schmucken Haus am Wald, das sie sich aus eigener Kraft geschaffen hatten. Wagner stirbt, erschöpft, weit vor der Zeit.
In diesem Jahr warnt auf dem Fundo in Chile Gisela Malessa ihre Kinder vor Schäfer. Er missbrauche die Jungen, sagt sie, sie sollen sich von ihm fernhalten. Ob wegen der Beichtpflicht oder aus anderen Gründen – die Kinder sagen es Schäfer. Dieser reagiert genauso entspannt und entwaffnend wie vor zehn Jahren auf derZeltfreizeit in Groß Schwülper, als Ida Ritz ihn mit Adolf Hitler verglich. Diesmal ist seine Antwort: »Ja, eure Mutter hat recht, das brauchen Jungen in eurem Alter.«
Aber vielleicht scheint er nur so locker. Schäfer ist ein begabter Schauspieler, wie alle Soziopathen. Gisela Malessa gehört von nun an zu den Ausgegrenzten, man spricht nicht mehr mit ihr, will nicht mehr mit ihr gesehen werden. Und Schäfer ist entschlossen, die Kinder endgültig von ihren Eltern zu trennen. Damit das Gerede endlich aufhört.
KAPITEL 14
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Sie ist da!
1968
Politik: Attentat auf Rudi Dutschke; Prager Frühling.
Gesellschaft: Revolution ist machbar, Herr Nachbar!
Macht kaputt, was euch kaputt macht! Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren! Mein Bauch gehört mir!
Im Kino: Das Wunder der Liebe (Oswalt Kolle);
Zur Sache, Schätzchen (Uschi Glas); 2001 – Odyssee im Weltraum. Literatur: Deutschstunde (Siegfried Lenz)
Werbung: Sexy-mini-super-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola.
Am 16. Juni 1968 darf auch Gudrun endlich nach Chile fliegen. Die dramatischen Ereignisse um ihren Vater, den Riss durch ihre Familie deckt sie zu mit Arbeit, Anpassung, Beten und Dulden. Bei dem Übermaß an Arbeit kommt sie ohnehin nicht viel zum Nachdenken. Immer noch hofft sie, dass Alfred in Chile auf sie wartet. Dass er ihr niemals schreibt – er wird wohl genauso viel zu tun haben wie sie. Am Tag
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