Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
sie Angst. Angst, die aus Erfahrung und Beobachtung kommt. Erinnerungen daran aus der Zeit, bevor er sieben ist, hat Bernd nicht, aber sehr deutliche Gefühle. Die Namen sind in Bernds Erinnerung noch heute mit Angst verbunden.
»Ja, soll ich die mal reinrufen?«, wiederholt Schäfer.
Dann gibt Bernd alles zu. Alles. Obwohl er gar nicht weiß, was das ist und worum es geht. So macht er es immer. Und die anderen machen es auch so. Ob man es versteht oder nicht. Ob es stimmt oder nicht.
Doch nun will Schäfer Details wissen. »Wie hast du das gemacht? Zeigen!«
Dann muss Bernd – und nacheinander jeder der Jungen – zeigen, was gemacht zu haben sie gestanden haben. Auch wenn sie gar nichts getan hatten.
Sie müssen es zeigen am Körper von Onkel Paul.
Und darauf folgen sexuelle Misshandlungen, die Bernd und die anderen Jungen nicht verstehen, die aber weitere Schuldgefühle bei ihnen auslösen. Neben einem Wirrwarr anderer Gefühle.
Dieses eine Mal bleibt Bernd in schrecklicher Erinnerung. Aber es geschieht nicht nur einmal.
Schäfers Taktik ist immer die gleiche. Nie sieht er selbst etwas. Immer sind es die anderen.
»Da sind einige von den Herren zu mir gekommen«, sagt Schäfer oft, »und die haben gesehen, dass du mit dem und dem das und das gemacht hast.«
Plötzlich erinnert sich Bernd, dass er solche Verhöre schon erlebte, bevor er sieben Jahre alt war.
Auch die Mädchen werden vernommen.
Waltraud liegt schon im Bett, als die »Gruppentante« zu ihr kommt, um sie in Schäfers Zimmer zu bringen. Schäfers Zimmer ist im selben Haus, im Kinderhaus eben.
Schäfer fängt scheinbar harmlos an, er klingt freundlich: »Was habt ihr Mädchen denn eigentlich mit den Jungs gemacht?«
Derselbe Schreck durchfährt sie und sie macht denselben panischen Versuch wie Bernd, möglichst schnell irgendetwas zu erzählen, was die Strafe vielleicht gering halten kann. Am besten etwas, das die Erwartungen von Paul Schäfer befriedigt.
Sie erzählt, was ihr vom Tag zuvor in Erinnerung geblieben ist, und fühlt sich schlecht und schuldig dabei.
In Erinnerung geblieben vom Tag zuvor ist ihr eine kleine Szene kindlicher Entdeckerlust. Die bringt sie Schäfer als Opfer dar. Zur Kinderarbeit gehört es, auf den Feldern Kartoffeln und Ähren zu sammeln und Strohballen in einer Reihe aufzustellen, damit die Lastwagen daran vorbeifahren und die älteren Kinder die Ballen leicht aufladen können. An diesem Herbsttag schiebt sie mit einer Gruppe von zehn fünf- bis achtjährigen Kindern die Strohballen in eine Reihe. Es ist ein warmer Herbsttag, der Lastwagen ist noch nicht da, sie lehnen sich an die Strohballen und warten, die Jungen in einer Reihe, die Mädchen in einer anderen.
»Da hat sich etwas Romantisches abgespielt«, sagt sie. »Und dann haben wir natürlich unsere Röckchen hochgehoben, und haben auch gezeigt, was wir hatten.«
Auch? Es muss also etwas vorangegangen sein.
Einigen Müttern war schon in Deutschland aufgefallen, dass ihre Söhne nachspielten, was Schäfer mit ihnen gemacht hatte. Nun zeigen auch die Jungen in Chile bei der Kinderarbeit auf den Getreidefeldern und beim Spielen in den Brombeerhecken diese Reaktion auf ihr Erleben sexueller Gewalt. Es sind kindliche Hilferufe und Versuche, eine unverständliche Erfahrung durch Wiederholung zu verarbeiten. Vierzehn Prozent aller Fälle sexuellen Missbrauchs werden durch sexualisiertes Verhalten aufgedeckt.
Vielleicht war es so.
Vielleicht aber waren es nur ganz normale »Doktorspiele«, gegenseitiges Kennenlernen des kindlichen Körpers. Ein weit verbreitetes Spiel, das zur kindlichen Entwicklung gehört. Erwachsene allerdings haben in diesem Spiel nichts zu suchen.
Als Waltraud die kleine Szene hinter den Strohballen auf dem abgeernteten Feld Paul Schäfer berichtet, beschuldigt er das siebenjährige Mädchen sofort, die Jungen verführt zu haben: »Was habt ihr Mädchen denn eigentlich mit den Jungs gemacht?«
Es ist typisch für Schäfer, dass er die Schuldigen für seine Schuld bei den kleinen Mädchen sucht. Die besondere Verachtung und Misshandlung der Frauen in der Colonia Dignidad spiegelt sich bisher nicht in der Literatur wider. Als einer der ersten wies der Journalist Friedrich Paul Heller auf die Situation der Frauen in der Colonia Dignidad hin, sie waren dort »passive, geschlechtslose Arbeitswesen. Während die Verbrechen der Sekte und Schäfers Übergriffe gegen die Jungen nach und nach bekannt wurden, blieben die Misshandlungen der
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