Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
vor dem Abflug erfährt sie, dass ihre Tante Resi, der sie so sehr vertraut, in der nächsten Woche zurückkehrt aus Chile. Was soll sie tun? Wenn Resi zurückkommt, hat sie triftige Gründe. Aber welche? 1963 hat die Familie ihr Haus in Österreich verkauft, um nach Chile zu gehen, und schon fünf Jahre später kehren sie zurück? Wen kann Gudrun fragen? Nur Resi. Soll sie überhaupt fliegen?
Das Ticket ist gekauft. Die Vernunft tritt in den Hintergrund. Der Flieger hebt ab. Am 17. Juni landet Gudrun in Santiago. Beim Zoll bemerkt niemand, dass in den Saum ihres weiten Rocks Dutzende Armbanduhren eingenäht sind. Man fragt sich, wozu: Nur wenige Kolonisten durften eine Uhr tragen – meist nur auf offiziellen Fotos, die belegen sollten, wie normal und angenehmdas Leben dort ist. Nach der Aufnahme werden die Uhren wieder eingesammelt.
Mit Tante Resi kann sie noch sprechen, aber sie erfährt nichts. Tante Resi schweigt. Das ist die Bedingung, unter der man sie gehen lässt. Das und der Sohn Horst. Auf einem Familienfoto von Gudrun ist er zusammen mit ihren Geschwistern zu sehen. Ein typisches Bild aus der Colonia Dignidad, blasse Menschen, gerade Haltung. Nur das Lächeln ist nicht mehr so schrill wie auf vielen anderen Bildern.
Tante Resi darf gehen und bekommt eine genaue Abrechnung ihrer eingezahlten Gelder und den Rest in Raten zurück. Nur wenigen gelingt so ein Deal mit Schäfer. Was weiß diese Familie? Oder was opfert sie?
In diesem Jahr sieht Wolfgang Gudrun wieder – zum ersten Mal nach sieben Jahren. Und wieder steht sie auf der Bühne. Alle Neuankömmlinge müssen zuerst auf die Bühne. Da steht sie nun. Und für Wolfgang verschmilzt die Erinnerung an die Szene in Groß Schwülper, seine persönliche »Erweckung«, mit dem Gefühl, dass sie dennoch immer noch getrennt sind wie die Königskinder. Nicht mehr der Atlantik mit Tausenden von Kilometern liegt zwischen ihnen. Sondern genau wie vorher – Schäfer. Miteinander zu sprechen ist fast unmöglich. Und wenn, dann sind es nur unverfängliche Alltagsfloskeln.
Vier Jahre muss er warten, bis er überhaupt eine Gelegenheit findet, sie unauffällig anzusprechen.
Musik und Angst
In Gudruns erstem Jahr in Chile, im Winter 1968, soll eine Schallplattenaufnahme vom Bläser-Chor gemacht werden. Gudrun darf mitsingen und Trompete blasen. In der Pause sitzt sie zufällig einem der »Knappen« gegenüber. Einen Moment zu lange schaut sie ihn an. Oder er sie. Es hat nichts zu bedeuten. Aber jemand sieht es und eilt zu Paul Schäfer. Gudrun fliegt aus dem Orchester. Musik war ihr einziger Trost. Ihr Halt.
Sie hört oft, wie die anderen üben, es hört sich schrecklich an, und jedes Mal zerreißt es ihr das Herz. Wie die sich abmühen beim Vorspielen mit der Klarinette, denkt sie, ein Schrecken für ihre Ohren. Aber sie darf nicht mehr mitspielen.
Diese Szene sieht Wolfgang. Er spürt ihre Enttäuschung, ihr Leid. Er beobachtet, wie sie dort an der Ecke immer stehen bleibt und zuhört. Wie sie sich losreißt und weitergeht. Aber er sagt nichts.
Musik ist Leidenschaft, aber auch Fassade in der Colonia Dignidad. Volksmusik und Klassisches. Bayerisch Volkstümliches für Besucher aus Deutschland. Dabei tragen die Kolonisten frisch gewaschene, gestärkte Dirndl, Trachtenjacken und Kniebundhosen. Wie eingefroren in den Fünzigerjahren, während die Zeit vergeht. Als sie langsam ergrauen, müssen sie sich die Haare färben. Der Knoten wird dünner, abgeschnitten werden darf er nicht. Die Wagner-Familie spielt viele Instrumente: Gitarre, Mandoline, Geige, Harfe, Posaune, Klarinette.
Musik ist Strafe. Wer etwas »angestellt« hat, eine Tasse zerbrochen, etwas verschüttet, wird bestraft. Dann muss er eine »Wohltat« machen. Etwas, das den anderen wohltut, ein Musikstück einüben, ein Stück aufführen. Das muss er neben seiner üblichen Arbeit vorbereiten. Neben seiner üblichen Arbeit ist aber gar keine Zeit. Also geht es vom Schlaf ab.
Musik ist Tarnung. Wenn jemand geschlagen oder sexuell misshandelt wird, überdeckt Musik die Schreie. Musik ist purer Sadismus, wenn schöne klassische Stücke gespielt werden, während im »Kartoffelkeller« gefoltert wird. Gegner der Militärdiktatur von August Pinochet werden in der Colonia Dignidad zu Beethoven gefoltert. Wer die Folter überlebt, nimmt als Erinnerung die für immer beschmutzte Beethoven-Sinfonie mit nach Hause.
Eine teuflische, verworrene Mischung. 57
Der Mai des nächsten Jahres prägt sich tief ein bei
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