Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Gudrun, weil er mit einer großen Enttäuschung verbunden ist. Gudrun hält an Alfred fest, trotz allem Unglück, das diese Liebe ihr bringt. Vielleicht heiratet er mich doch noch? Ein Wunsch, der sicher Anteil daran hat, dass Gudrun überhaupt in der Sekte bleibt und 1968 nach Chile auswandert. Doch dort ist nicht einmal ein Gespräch mit Alfred möglich. »Ich hab nichts mit dir zu reden«, sagt er, als sie versucht, ihn anzusprechen, und wendet sich von ihr ab.
Im Mai 1969 heiratet er eine andere.
Der Wonnemonat Mai inspiriert viele Paare zur Hochzeit. Auf der Südhalbkugel der Erde allerdings geht es dann schon auf den Winter zu. Auch sonst ist es ein unromantisches Ereignis. Schäfer teilt die Paare einander zu – er könnte auch würfeln. Nachts geht Schäfer durch den Schlafraum der großen Knappen und weckt die Leute, die heiraten sollen.
»Du bist der erste Schub, und du der zweite«, sagt er. Sie werden eingeteilt in zwei Partien. Wolfgang, der im Schlafsaal der Knappen liegt, stellt sich schlafend und hört zu, als Schäfer seine Entscheidung mitteilt. Als Bräute wählt er möglichst Frauen über vierzig aus.
Eine standesamtliche Sammelhochzeit von sieben Paaren mit anschließender Feier findet statt. Alfred Matthusen heiratet Elli Gerlach. Dem 26-jährigen Hartmut Hopp wird die zehn Jahre ältere Dorothea Witthahn beigegeben. Eher als Aufpasserin, Hopp war schon einmal geflüchtet. Es soll eine geheime Veranstaltung sein, niemand außer den vierzehn Betroffenen darf davon wissen. Daher wird für die anderen an diesem Tag ein Picknick veranstaltet. Genau gesagt zwei Picknicks: nach Schäfers Anordnung sitzen die Mädchen in einem Tal, die Jungen in einem anderen. Wenn hier von »Mädchen« und »Jungen« die Rede ist, sind Frauen und Männer bis zum Alter von vierzig oder fünfzig Jahren gemeint.
Nicht nur die Hochzeit wird verheimlicht, die Paare dürfen auch nie zusammen gesehen werden. Sie werden als »Onkel« und »Tante« angesprochen, selbst von ihren eigenen Kindern, die oft nicht wissen, wer ihre Mutter und ihr Vater ist.
Gudrun ist inzwischen dreißig, auch sie muss zu den Verheirateten nun Onkel und Tante sagen.
Heiraten ist nicht gestattet. Ausnahmen bestätigten die Regel, müssen aber streng geheim gehalten werden. Manches sickert dennoch durch.
»Hei-raten«, sagt Schäfer zu den Kindern, »hei-raten.« Er zieht das Wort in die Länge und macht ein angeekeltes Gesicht, als würde ihm übel. Er übt es mit ihnen ein. Im Chor müssen sie es nachsagen. Die Kinder sollen lernen, dass es um etwas Widerliches geht, einen besonders perversen Brauch.
Schäfers Mutter hatte mehrmals geheiratet. Es hat dem Sohn nicht gefallen.
KAPITEL 15
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Die Vertreibung aus dem Paradies
1969
Gesellschaft: Woodstock; Mondlandung;
Ehebruch und Homosexualität werden straffrei.
Schlager: Heidschi Bumbeidschi (Heintje);
In the Ghetto (Elvis Presley).
Literatur: Jakob der Lügner (Jurek Becker).
Im Kino: Easy Rider (Dennis Hopper, Peter Fonda, Jack Nicholson).
TV : Wünsch Dir was (Dietmar Schönherr, Vivi Bach).
Politik: Willy Brandt wird Bundeskanzler.
Werbung: Weg mit dem Grauschleier! Spruch des Jahres: Mehr Demokratie wagen!
So wie Bernd und Waltraud leben die Kinder, bis sie sieben Jahre alt sind. Dann kommt das Schreckliche. Und das Schreckliche ist gefolgt von einem Riesenfeuer, in dem alle Brombeerhecken abgebrannt werden. Wie ein Flammenschwert, das die Kinder auseinandertreibt und sie spaltet.
Was ist geschehen?
Eines Tages, im Herbst 1969, lässt Paul Schäfer die Kinder zu sich bringen. Wie üblich immer einzeln. Keine Zeugen. Als Bernd an der Reihe ist, sagt Schäfer zu dem kleinen Jungen: »Da ist doch heute der Onkel Kurt zu mir gekommen und hat erzählt, dass du mit den Mädchen Geschlechtsverkehr hattest. Und der Onkel Mücke hat es auch gesehen.«
Wie reagiert ein siebenjähriges Kind darauf?
Bernd ist tief erschrocken. Er kennt das gar nicht. Er weiß nicht, wovon der tío spricht. Aber er weiß, dass Fragen in diesem Ton immer Prügel nach sich ziehen. Und während er noch dasteht, starr vor Angst, kommt schon die ernste Nachfrage: »Willstdu das etwa abstreiten? Soll ich den Onkel Kurt und den Onkel Mücke mal reinrufen?«
Bloß das nicht.
Diese Namen lösen einen weiteren Schock aus. Gerhard Mücke ist wie der Riese Goliath für den kleinen Bernd. Und auch Kurt Schnellenkamp ist nicht nur aus Sicht eines Kindes ein Riesenkerl. Wenn die Kinder diese beiden nur sehen, bekommen
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