Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
dürfen.
Auf höchster Ebene
Die Zwangsarbeit dauert an, für Gudrun in der Wäscherei, für Wolfgang auf dem Bau. Immer noch erhält er Psychopharmaka, hochdosiert, die ihn in einen psychischen Nebel versetzen. Gleichzeitig muss er gefährliche Arbeiten ausführen, muss Dächer reparieren, Hauswände streichen und dabei auf Leitern steigen. Eines Tages soll er ein Wespennest im Dach einer Schule in der StadtParral entfernen; dabei verliert er das Gleichgewicht, stürzt ab und bricht sich ein Bein. Die Verletzung ist so schwer, dass er in ein Krankenhaus außerhalb der Kolonie gebracht wird. Die Medikamente, unter anderem Neuroleptika, die er nicht braucht, an die sein Körper aber gewöhnt ist, gibt man ihm nicht mit – die fremden Ärzte sollen nichts davon erfahren. So macht Wolfgang außer seiner Beinoperation noch einen kalten Entzug durch, der ihn fast das Leben kostet.
»Was für Medikamente nimmt Ihr Mann?«, fragen die Ärzte Gudrun, »von einem Beinbruch allein kann er so einen schlechten Allgemeinzustand nicht haben.«
»Ich weiß es nicht«, sagt sie, »aber es sind sehr viele.« Sie fragt in der Kolonie nach, bettelt bei Hartmut Hopp um Auskunft. Man sagt es ihr nicht.
Derweil kämpft Wolfgang um sein Leben.
Dabei hat er noch Glück. Wenige Tage später, am 14. Februar 2002, stürzt ein anderer vom selben Dach. Karl Stricker, Kuddel , der viele Fluchtversuche in den Sechziger- und Siebzigerjahren hinter sich hat und seither ebenfalls mit Psychopharmaka vollgestopft wird, kann sich nicht mehr festhalten und rutscht ab. Ein Jahr hatte Wolfgang seinen einzigen Freund heimlich mit großen Mengen Kaffee versorgt, als Gegengift zur Zwangsmedikation. Es half ein wenig. Doch nun liegt Wolfgang im Krankhaus, und niemand kümmert sich um Kuddel. Weil keiner von ihrer geheimen Abmachung weiß, bringt niemand ihm Kaffee. So stürzt der 65-Jährige ab und stirbt. In der nächsten Woche wäre seine Hochzeit gewesen, endlich sollte auch er heiraten dürfen.
Elf Tage später, am 23. Februar 2002, lässt sich Bundeskanzler Gerhard Schröder die Umstände des Todes von Karl Stricker vom chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos erläutern. Soweit möglich. Und soweit die Zeit reicht, denn in der halben Stunde, die den beiden zur Verfügung steht, geht es vor allem um Kupfer, Geld und um die chilenische Kriegsmarine. Weitere Einzelheiten werden nicht bekannt, da sich das Gespräch bei einem Gipfeltreffen in Stockholm »auf höchster Ebene« bewegt. 74
Heimlich besuchen Wolfgang und Gudrun nun »die Verräter«, wie Aussteiger genannt werden, die die Kolonie verlassen haben, aber noch in der Nähe wohnen. Deren Geschichten lassen sich die beiden erzählen, und ihnen gehen die Augen auf. Gudrun erfährt zum ersten Mal von Folterungen und Morden an chilenischen politischen Gefangenen durch den chilenischen Geheimdienst DINA . Von der Amnesty-International-Broschüre, welche diese Verbrechen vor 25 Jahren anprangerte, hatte Gudrun noch nie gehört – obwohl auch sie am Hungerstreik gegen Amnesty International und die Veröffentlichungen des Magazins Stern teilnahm. Und Wolfgang beginnt, die Folter an Regimegegnern in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit anderen Augen zu sehen. Gudrun erfährt, wer die Massengräber ausgehoben und wieder zugeschüttet hatte. Sie erfährt, wer sie dann wieder geöffnet hatte, um die Toten herauszuholen und zu verbrennen. Und wer die Asche im Perquilauquén verstreute, damit die Fluten alle Spuren vernichten, das erfährt sie auch.
Besichtigung der Vergangenheit
Im Jahre 2005 entschließen sich Gudrun und Wolfgang, ihr Fundo, die »Villa Baviera«, die ehemalige Colonia Dignidad zu verlassen. Und für immer hinter sich zu lassen. Kurz vor ihrer Abreise kommt Eva Schaak auf Gudrun zu. Eva ist nun die Witwe von Alfred Schaak. Auch Alfred Schaak starb in Deutschland eines verdächtigen Todes – kurz nachdem zwei Beauftragte von Paul Schäfer ihn unter Druck gesetzt hatten, sein Testament zu machen.
Eva Schaak zögert, sie wirkt verlegen, ringt sich dann aber durch, blickt Gudrun in die Augen und sagt: »Kann ich dich was fragen? Es ist vielleicht peinlich, aber ich möchte dich gern was fragen.«
»Du kannst mich alles fragen«, antwortet Gudrun, »ich will versuchen, dir zu antworten.«
Eva Schaak: »Weißt du eigentlich, dass du damals, als die Sache mit Alfred Matthusen war, diese Liebesgeschichte, dass du damals geschlagen worden bist?«
Gudrun weiß es nicht. Sie weiß nur von
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