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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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wenige geschafft haben.
    Doch bisher ist ihren Versuchen, im Meer des Vergessens gerade diese einzelne Insel wiederzuentdecken, kein Erfolg beschieden. Auch mit therapeutischer Hilfe nicht. Zwischen dem Abend, als sie sich die Herausgabe ihres Passes erschwindelte, und dem Moment, als sie wieder zu sich kam, klafft immer noch eine Lücke von vielen Monaten, vielleicht Jahren.
    Es gibt viele solcher Lücken in Gudruns Gedächtnis. Und sie ist nicht die Einzige, der es so geht. »Das haben sie mir aus dem Gedächtnis geholt«, sagt sie dann entschuldigend. Sie ringt um jeden Fetzen. Aber vielleicht macht es Sinn, wenn manche Erlebnisse verborgen bleiben.
    Traumatherapeuten raten inzwischen zu großer Vorsicht im Umgang mit verborgenen Erinnerungen. Dr. Arne Hoffmann 75 , Arzt und Psychotherapeut in Köln, warnt: »Mit der guten Erinnerung kann die schreckliche Erfahrung eng verbunden sein. Und beide können zusammen wiederauftauchen. Das sollte man nicht erzwingen. Traumaüberlebende könnten überflutet werden von Erinnerungsbildern an erlittene Gewalt, die sie nicht verkraften können.«
    Doch eine Frage beschäftigt Gudrun weiter: Warum erinnert sie sich nur genau bis zu dem Punkt, an dem sie sich die Schuld gibt, weiß aber nicht mehr, was danach geschah? Sie weiß, dass sie schon in Siegburg auf diese Weise gefügig gemacht wurde, damit sie nichts verrät, nichts verweigert, nichts ihren Eltern erzählt. Dieser Gedächtnisraub macht sie immer wieder zornig. Sieerinnert sich an das Krankenzimmer. Aber was mit ihr gemacht wurde, weiß sie nicht. Kurz vor ihrer Abreise aus Chile spricht sie die Doctora an, Gisela Seewald, die Ärztin der Kolonie.
    »Was ist mit mir passiert«, fragt sie, »wenn ihr wieder mal gesagt habt, ich müsste mich entspannen? Ich erinnere mich an die Spritze, aber was war danach?«
    Gudrun weiß nun von den Elektroschocks, aber sie will es aus dem Mund der Täterin hören. Sie will die Konfrontation mit der Ärztin. Erst will die nicht mit der Sprache rausrücken, aber Gudrun ist stärker geworden. Sie beharrt darauf, bohrt so lange, bis die andere nachgibt.
    »Du hast Elektroschocks bekommen«, gesteht Gisela Seewald schließlich.
    »Und was sollten die bewirken?«, fragt Gudrun.
    »Gedächtnislücken«, ist die knappe Antwort.
    Ja, denkt Gudrun später, das macht Sinn. Wenn ich die Erinnerungen behalten hätte, wäre ich wohl gar nicht mit nach Chile gefahren.
    Vieles liegt noch im Verborgenen, nicht nur bei Gudrun.
    In wessen Auftrag und mit wessen Billigung wurde dieses zielgenaue Löschen von Erinnerungen an den erwachsenen Bewohnern und an den Kindern der Kolonie erprobt? Darauf gibt es noch keine Antwort.
    Eine Erklärung, die allein auf Paul Schäfer verweist, genügt nicht.
Mina Wagner
    Einen glücklichen Augenblick gibt es, als Gudruns Mutter und die jüngste Schwester in die Kolonie kommen. Der Freund der Schwester hat das eingefädelt. Es sind ihre ersten privaten Besucher von draußen. Zum ersten Mal nach vierzig Jahren sieht sich die Familie wieder.
    Unbeschwert ist Gudrun nicht, auch wenn die Fotos, die derFreund der Schwester macht, so erscheinen. Immer noch passen alle hier auf, was sie sagen, immer noch werden sie überwacht. Die Geschwister trauen sich gegenseitig nicht. So wartet Gudrun einen kurzen Moment ab, als sie allein mit ihrer Mutter ist, dann flüstert sie ihr zu: »Mama, ich war es nicht, die Papa ins Gefängnis gebracht hat.«
    »Das weiß ich«, antwortet die 89-jährige Mina.
    Gudruns Vater ist schon lange tot, seine Rolle in dem Familiendrama bleibt in den gemeinsamen Gesprächen ausgespart. Sie wollen die alte Mutter schützen, die nun drei Jahre bei ihren Kindern in Chile lebt. Als zwei von ihnen zurück nach Österreich gehen, folgt sie ihnen und kann mit 93 Jahren sterben, nachdem sie all ihre Kinder noch einmal gesehen hat.
    Gudrun weiß bis heute nicht genau, weshalb ihr Vater im Gefängnis war. Manchmal allerdings kommt das bedrohliche Wissen ihr nahe.
    »Hilde behauptet wohl, sie sei missbraucht worden«, sagt Gudrun nachdenklich und fügt an: »Ich weiß es nicht, ich habe nie mitgekriegt, dass so etwas passiert ist zu Hause.«
    In diesem Moment greift Wolfgang schützend ein. »Von dem Papa glaube ich das nicht.« Wolfgang Müller war niemals in Gudruns Elternhaus. Ihre Eltern kennt er nur von kurzen Begegnungen im Jugendheim in Siegburg-Heide. Zwar wohnte auch Gudruns Vater ein Jahr lang dort und arbeitete ohne Bezahlung für die Sekte, aber die

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