Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
es tatsächlich bis zur österreichischen Botschaft in Santiago. Aber sie weiß nicht mehr, wie. Die Erinnerung ist weg. Was bleibt, ist die Erinnerung an Schläge, als man sie zurückbringt ins Fundo.
Ihre Schwester in Österreich hört über das Auswärtige Amt in Wien davon. Sehr viel später erfährt Gudrun von ihr, wann das überhaupt war. Aus eigener Erinnerung weiß sie es nicht.
Aber sie weiß genau, dass sie immer wieder wegwill. Vorherhat sie es zwei Mal geschafft, ein Stück außerhalb des Fundo, vom Wohnbereich, zu kommen, vielleicht fünfhundert Meter. Sie entdeckt eine schmale Lücke im Zaun, dicht an einer der Turbinen, mit denen die Kolonie ihren eigenen Strom erzeugt. Da klettert sie hindurch. Wegen des Gestrüpps muss sie am Zaun hochklettern. Sie kommt nicht weit.
Was sie noch nicht weiß: In jedem Zaunpfahl sind Sicherheitsanlagen. Sie hetzen Hunde hinter ihr her, einer stellt sie, springt sie an. Seine Pfoten auf ihrer Brust. Sie wagt nicht, sich zu rühren. Innerhalb des Zauns fährt der Wagen mit Hans-Jürgen Riesland und Karl van den Berg heran. Die schneiden den Zaun auf und wollen Gudrun überreden, zurückzukommen auf die andere Seite.
»Ich komm nicht mehr mit«, sagt sie, »ich will hier nicht bleiben. Lasst mich endlich gehen.«
»Nun komm doch erst mal«, sagen sie freundlich, »wir können doch alles besprechen, du kannst ja gehen, wenn du willst. Aber lass uns das doch nicht hier besprechen, lass uns das doch drinnen besprechen.«
»Drinnen«, das ist das Krankenhaus. Was dann mit ihr geschieht, weiß sie nicht mehr. Sie weiß es noch bis zum Krankenhaus. Das Krankenhaus ist der Schrecken. Wieder bekommt sie eine Spritze und soll entspannen. So weit reicht ihre Erinnerung.
Wolfgang wird nun für drei Jahre ans Meer geschickt zum Fischen, damit er Gudrun nicht sehen kann. Er arbeitet auf einem der drei großen Fischkutter der Kolonie. Nur in den Wintermonaten Juni, Juli, August ist er für drei Monate »zu Hause«. In diesem Zusammenhang von »zu Hause« zu schreiben, fällt schwer. Aber vier Jahrzehnte lang ist es das einzige Zuhause, das er hat. Manchmal darf Wolfgang auch im Sommer für eine oder zwei Stunden nach Hause, um Fische auszuladen. Meistens nachts.
Dann sucht er wieder nach Gudrun, hängt irgendwas an ihr Fahrrad. Ein kleines Geschenk. Einen Hinweis: Ich bin da.
Da nehmen sie ihr das Fahrrad weg.
Sie wollen uns unbedingt auseinanderbringen. Warum nur?, denkt sie. Zeitweilig gelingt es ihnen sogar; die kleinen grünen Pillen, die sie ihr geben, machen Gudrun ganz gleichgültig. Dann ist ihr alles egal, und das ist ein sehr angenehmes Gefühl. Ganz leicht wird ihr, so als ob sie innerlich schwebt. Da kommen sie mit einem Brief, den sie unterschreiben soll. In diesem Zustand kann sie kaum noch lesen, hat aber auch keinen Widerstand mehr. »Ich sage mich los von Wolfgang«, steht da. »Ich will nie wieder etwas mit Wolfgang zu tun haben und werde auch nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.«
Sie ist kaum noch bei Verstand, aber sie weigert sich. »Das kann ich nicht unterschreiben. Wenn ich das unterschreibe«, sagt sie zu Schäfer, der ihr den Brief gebracht hat, »dann kann ich für Wolfgangs Leben nicht garantieren.«
»Das lass man meine Sorge sein«, meint Schäfer. »Sei froh, dass du ihn los bist, er ist ein Lügner und Betrüger. Er erzählt allen nur Lügengeschichten.«
Schließlich hat er sie so weit. Und sie unterschreibt.
Den Zettel mit ihrer Unterschrift zeigen sie Wolfgang.
Acht, vielleicht zehn Mal können die beiden zusammen sein in den Zeiten der Kolonie. Zehn Mal in vierzig Jahren.
Es ist eine bittere Zeit. Was dann folgt, ist noch härter: Sieben Jahre muss Gudrun im Krankenhaus verbringen, von 1988 bis 1995. An die ersten Monate erinnert sie sich überhaupt nicht. Die nächsten Jahre sind eine gleichförmige, dumpfe Zeit. Als sie eine Liste ihrer Tätigkeiten aufschreibt, fehlen ganze Jahre. Bis zum Jahr 2000 arbeitet und schläft sie in der Gärtnerei.
»Dass ich meinen Verstand behalten habe«, sagt sie sehr viel später, »das ist ein Wunder. Bei all den Mitteln, die sie angewandt haben, um mich zu zerstören.«
Wahrscheinlich wurde auch LSD in der Colonia Dignidad hergestellt. Es ist leicht zu produzieren, und einige von Gudruns damaligen Symptomen legen diese Vermutung nahe.
TEIL 3
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Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit
Chile – Deutschland 2000-2011
Man überlebt nicht alles,
was man überlebt.
Ilse Aichinger 73
KAPITEL
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