Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
»woanders.«
Schäfer ist seit Jahren fort. Aber die Angst hat er dagelassen. Sie ist tief verinnerlicht, Gudrun kann nicht anders. Sie treffen sich etwas später am Bienenschuppen. Gudrun weiß nicht, dass auch dort Abhöranlagen eingebaut sind. Vielleicht wäre es ihr jetzt auch egal.
Einige Meter weiter werden Stoffe zerfetzt und zu Matratzen verarbeitet, alles ist voller Staub. Wolfgang und Gudrun stehen mitten in der Staubwolke und sind glücklich.
Wenn sie später davon erzählt, schweigt sie erst eine Weile; es fällt ihr nicht leicht, die Szene und ihre eigenen Empfindungen zu beschreiben, vielleicht möchte sie die kostbaren Gefühle ganz für sich behalten. Vielleicht aber weiß sie gar nicht, wie sie ihre Gefühle beschreiben soll, sie ist so ungeübt darin.
Ganz lange halten sie sich in den Armen. Dann sagt sie: »Wolfgang, das Nein gilt nicht mehr. Ich musste das damals unterschreiben, das haben sie mir abgezwungen. Ich habe so oft geweint deshalb, nachts, wenn es keiner gesehen hat. Es gab sogar Zeiten, woich dich gar nicht mehr gemocht habe, sogar das haben sie erreicht. Aber dann habe ich dich wieder sehr vermisst.«
Ein Jahr lang müssen die beiden noch kämpfen, bevor die Führungsclique ihnen erlaubt zu heiraten. Die Idee, dass eigenständige, unabhängige Entscheidungen möglich sind, muss sich erst Raum schaffen in ihren Gedanken, sich einnisten.
Nach der alten Strategie Schäfers versuchen einige die Beziehung zu hintertreiben: üble Nachrede, Diffamierung, Lügen. Auch sie können noch nicht anders.
Das Fundo ist wirklich zu dem Ort geworden, den Schäfer sich erträumt hatte: Vierzig Jahre lang konnte ihm niemand reinriechen. Mehr noch, es konnte niemand dort reinkommen, wenn Schäfer es nicht wollte. Und rauskommen konnte auch keiner ohne Gefahr für Leib und Leben. Ein riesiges, zum Teil undurchdringliches Gelände, aus dem ein Paar ohne Auto und ohne Geld und ohne fremde Hilfe nicht wegkommt. Geringe oder gar keine Kenntnisse der spanischen Landessprache taten ein Übriges. Einiges hat sich geändert. Im Kartoffelkeller werden keine Regimegegner mehr gefoltert. In diesen Räumen wohnt inzwischen die Gruppe der Komalos. Komalos werden die unverheirateten Männer genannt, die Schäfer von Anfang an begleitet haben. Einige sind froh, endlich ein eigenes Zimmer zu bekommen. Egal, wie klein es ist. Mit den anderen zusammen war es noch enger. Eine Zeit lang musste Gudrun mit fünfzehn anderen Frauen in einem Raum schlafen.
Doch Gudrun und Wolfgang machen auch eine gute neue Erfahrung: Gemeinsam sind wir stark!
Am 4. April 2001 ist es endlich so weit. Sie heiraten. In einer kargen Amtsstube in Catillo. Die Fahrt dahin ist voller Angst: Hoffentlich kommt jetzt nicht noch einer und verhindert es. Immer wieder dreht Gudrun sich im Wagen um, schaut aus dem Rückfenster und erwartet, dass sie verfolgt werden und dass die Hochzeit nicht stattfindet. Als beide das Dokument unterschrieben haben, atmen sie auf. »Das kann uns keiner mehr nehmen.«
Nun kommt die Hochzeitsreise. Das Fundo dürfen sie auch jetzt noch nicht verlassen. Man weist ihnen ein Zimmer im Jägerhaus im Nordtal zu. Hier hat Schäfer Station gemacht, wenn er auf der Jagd war. Nun sind sie allein, aber es ist ihnen unheimlich. Frei fühlen sie sich nicht. Am nächsten Tag begreifen sie, warum. Morgens erscheint Rudi mit einer Krankenschwester an ihrer Tür; die Schwester gibt Wolfgang die tägliche Insulinspritze, und Rudi Cöllen macht eine eindeutige Bemerkung über die Ereignisse des vergangenen Abends. Da begreifen sie, dass ihr Zimmer im Jägerhaus mit Abhöranlagen verwanzt ist. Sie wollen von dort weg, doch erst lässt man sie nicht. Rudi Cöllen bedrängt sie zu bleiben. Gab ihr nächtliches Gespräch nicht genug her? Drei Tage müssen sie bleiben, dann dürfen sie wieder fort. Verheiratet sind sie nun, aber niemand feiert mit ihnen. Oder freut sich gar mit ihnen. Zusammenleben dürfen sie auch nicht.
Aber sie bekommen Taschengeld – den Gegenwert von zwölf Euro im Monat. Davon stottern sie einen kleinen Fernseher ab und beginnen langsam die Welt dort draußen mit eigenen Augen zu sehen.
Gudrun erhofft sich Unterstützung von ihren Geschwistern – zunächst vergeblich. Eine der Schwestern ist in der Führungsclique verankert, als Frau zwar, und das ist hier weniger wert. Aber seit 1999 ist Hartmut Hopp der Schwager ihrer Schwester Hilde, und das bindet. Sie hat Einblick in Dinge, die nicht nach außen dringen
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