Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
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Der Strick
Villa Baviera, Parral, Chile
im März 2000, nachmittags
Wir schütteln den Staub
von unseren Füßen.
Gudrun und Wolfgang Müller
»Schäfer kommt nicht zurück ins Fundo!« – »Schäfer kommt nicht zurück ins Fundo!« Überall hört man es. Warum kommt er nicht? »Die Keile würden mit dem Finger auf ihn zeigen. Die würden ihn zerfetzen.« Die Gruppe der Keile wurde Mitte der Siebzigerjahre aus den sechs- bis fünfzehnjährigen Jungen gebildet. Aus den Keilen rekrutierte Schäfer seine Sprinter. »Die Keile würden ihn zerfetzen. Sein Badezimmer haben sie schon zertrümmert.«
Sofort taucht ein Bild auf im Kopf: Eine Meute verhungernder Jungen verfolgt einen Mann, zerfleischt ihn und frisst Stücke von ihm. Plötzlich im letzten Sommer heißt der Film, nach einem Theaterstück von Tennessee Williams. Gudrun kennt den Film von 1959 nicht, der wegen des Hays Code der US -Filmzensur die Homosexualität des Mannes ebenso verschleierte wie die Rolle der Jungen, die der Amerikaner für sexuelle Dienste bezahlte. Sie hat keine Ahnung, weshalb die Gruppe der Keile Schäfer zerfetzen würde. Es interessiert sie auch nicht.
1997 ist Schäfer untergetaucht, chilenische Mütter hatten ihn wegen sexueller Übergriffe auf ihre Kinder angezeigt. Es gibt polizeiliche Durchsuchungen auf dem Fundo. Erst versteckt Schäfer sich auf dem Fundo, dann organisiert Hartmut Hopp für seinen Herrn und Meister die Flucht und eine komfortable Unterkunftin Argentinien. Schäfer bestimmt die provisorische Führung und dirigiert nun von Argentinien aus. Im Prinzip geht alles weiter wie bisher. Manches lockert sich, aber immer noch herrscht die Angst. Viele Kolonisten fühlen sich sogar von Schäfer alleingelassen. Gudrun weiß nur, dass Schäfer fort ist. Warum, weiß sie nicht.
Schäfer kommt nicht zurück! Das ist der einzige Satz, der sie interessiert. Wenn Schäfer nicht zurückkommt, dann gilt auch das Nein nicht mehr, das sie Wolfgang dreizehn Jahre zuvor schriftlich geben musste.
Sie versucht, Wolfgang zu erreichen. Aber heimlich, denn die beiden dürfen immer noch nicht miteinander sprechen. Sie sieht keine Möglichkeit, ihn zu treffen. Alle in der Kolonie wissen, dass Paul Schäfer die Beziehung zwischen Gudrun und Wolfgang nicht duldet. Noch immer hat er die Macht, obwohl er seit vier Jahren fort ist. Auch für Gudrun sind viele Gedanken undenkbar. Was uns normal erscheint, kann sich in ihrem Gehirn keinen Raum schaffen. Etwa der Satz: »Ganz egal, was die sagen, ich gehe jetzt einfach zu Wolfgang und rede mit ihm!« Dieser Gedanke existiert nicht. Was soll sie tun?
Sie muss es auf Umwegen versuchen.
Da bittet sie Dieter Malessa, zu Wolfgang zu gehen und ihm zu sagen, dass ihr Nein nicht mehr gilt. Erst will Dieter nicht. Er windet sich. »Das ist schwierig, schwierig.« Aber er muss etwas wiedergutmachen. Vor vielen Jahren fing Schäfer einen freundlichen Blick zwischen Dieter und Gudrun auf. Nur einen Blick. Nicht mehr. Daraufhin wurde Gudruns Teilnahme an der Plattenaufnahme des Orchesters gestrichen, auf die sie sich so gefreut hatte. Und Dieter schenkte ihr nie wieder einen Blick. Diese Feigheit wirft sie ihm jetzt vor. Aber wer weiß, mit welcher Strafe Schäfer ihn getroffen hatte?
Schließlich gibt er nach. Zuerst erzählt er ihr, dass Schäfer sie vor mehr als dreißig Jahren abgrundtief schlechtgemacht habe, damit Dieter sie meide. Dann will er versuchen, den Kontakt zu Wolfgang herzustellen.
Am nächsten Morgen geht er zu Wolfgang. Aber auch DieterMalessa hat keine klare Sprache zur Verfügung. So vage, vorsichtig und mehrdeutig wie möglich sagt er: »Du brauchst doch eine Pflegerin oder Krankenschwester.« Wer nie an einem Ort war, wo alles Augen und Ohren hat, wo nichts geheim bleibt und wo alles Strafen nach sich ziehen kann, der kann sich nicht vorstellen, wie Kommunikation unter diesen Bedingungen funktioniert.
Wolfgang versteht die Bedeutung hinter den Wörtern. »Ich hab doch keine Aussichten mehr«, erwidert er traurig.
Dieter, leise: »Doch, das Nein gilt nicht mehr, soll ich dir sagen.«
In der Nacht zuvor wollte Wolfgang sich das Leben nehmen. Doch er hat es sich noch einmal überlegt. Den Strick hat er vernichtet. In den Ofen geworfen. Der ist verbrannt. Keine Spuren. Dann ist Wolfgang wie gewohnt an seine Arbeit gegangen. Bis Dieter kam.
Jetzt geht Wolfgang zu ihr. Nimmt den direkten Weg.
»Nicht hier«, sagt Gudrun sofort und schaut sich ängstlich um,
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