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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Volz
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dass es ein merkwürdiger Stil war, mir einen Brief zu schreiben, obwohl er mich jeden Tag sah und freundlich grüßte, fühlte ich mich ungerecht behandelt. Die anderen Spieler hatten bei Roten Karten bislang nie etwas zahlen müssen. Die PFA sorgte dafür, dass Fulham die Strafe zurücknahm. Der Klubsekretär grüßte mich weiterhin freundlich, als habe er den Brief nie geschrieben.
     
    «Und lasset uns für Frieden in der Welt beten, für die Menschen, die Hunger leiden», knarrte Gordon Taylors Stimme in diesem lalligen Yorkshire-Akzent, als ob die Zunge und der Kiefer sich losgelöst hätten. Ich war enttäuscht. Irgendjemand musste dem Geschäftsführer geraten haben, sich beim traditionellen Tischgebet auf der Jahresgala doch etwas kürzer zu fassen. Er betete nur zehn Minuten. In den Jahren zuvor war es immer eine gefühlte halbe Stunde gewesen. Vor lauter Kürzungen vergaß er diesmal, für die Queen zu beten.
    Taylor stand über uns. Ein langer Tisch thronte wie jedes Jahr auf einem Podest über all den runden Tischen im Festsaal des Landmark-Hotels, der
Top Table
. Dort saßen das Präsidium der PFA und ihre honorigen Gäste, die herzlich geladenen Präsidenten der Schiedsrichtervereinigung, des Fußballreporterverbands, des Schulfußballverbands und eines Dutzends weiterer ehrwürdiger Fußball-Unterverbände.
    Als Preisverleiher bei einem Wohltätigkeits-Pferderennen der PFA im Sandown Park.
    2010 kippte einer der älteren Ehrengäste am
Top Table
während Gordons Gebet vom Stuhl. Der Mann war ohnmächtig geworden. Der Saal raunte. Gordon betete einfach weiter. Er hatte die Augen geschlossen und nichts bemerkt. Nach einem Moment, der nur mit dem Begriff Ewigkeit zeitlich richtig beschrieben werden kann, ging auch Gordon auf, dass etwas nicht stimmte. Trocken wie ein Nachrichtensprecher vergangener Tage verkündete er, was jeder sah: «Ein Gentleman am
Top Table
ist gerade zusammengebrochen. Bitte warten Sie mit uns, bis wir im Programm fortfahren.»
    Als der Mann am Boden wieder zu Bewusstsein kam, setzte er sich, nun mit zerzausten Haaren und verwirrten Augen hinter seiner Brille, ganz selbstverständlich zurück auf seinen Stuhl. Im Jahr darauf begrüßte ihn der PFA -Vorsitzende Clarke Carlisle mit der gespielten Trockenheit des britischen Humors: «Sir, ich bin froh, dass Sie es wieder hierhergeschafft haben, nach all der Aufregung im letzten Jahr.»
    Auf das Gebet folgte traditionell das Gedenken an alle PFA -Mitglieder, die im zurückliegenden Jahr von uns gegangen waren. Und während Gordon Taylor der Toten gedachte, war das alte, das ewige England lebendiger denn je. Seine Abschiedsworte entstammten einer Sprache, die man im Alltag nicht mehr hörte. «Bobby Smith», sagte Gordon Taylor überbetont emotionslos wie die Schauspieler vor 60 Jahren, als die unausgereifte Ton- und Filmtechnik es noch erforderte, Gesten und Worte unnatürlich stark zur Geltung zu bringen, «starb 77-jährig. Er war ein großartiger Diener für Klub und Land.»
    Unterdessen hatten die Jungs von Hull City an Tisch 62 ihre weißen Handys neben das Silberbesteck gelegt, einer schlug sich gedankenverloren rhythmisch mit dem Löffel auf die Nase, die Smokings hingen wie Säcke an ihnen. Sie bestellten Cola-Whiskey und schauten entgeistert, als der Kellner ihnen die Rechnung brachte: um die 15 Pfund das Glas. Auf jedem Tisch standen zwei Wasser- und zwei Weinflaschen, australischer Chardonnay und Shiraz, sie gingen genau wie das Essen auf Einladung der PFA . Alle weiteren Getränke mussten bezahlt werden. Eine Schutzmaßnahme, damit nicht vor dem
Loyal Toast
des PFA -Vorsitzenden schon zu viele betrunken waren. Warum die Extraflasche Wasser auch zehn Pfund kosten musste, erklärt sich damit allerdings nicht.
    Das Essen kam und damit die anstrengendste Zeit für die Gäste. Zum gekühlten frischen Krabbensalat mussten englische Galagespräche geführt werden, unterhaltsam, charmant, aber auf keinen Fall zu persönlich. Es gibt mittlerweile sogar Ratgeberbücher, um Ordnung in den englischen Sprachcode zu bringen, aber letztendlich ist jedes Gespräch mit einem Halbfremden wieder eine neue Herausforderung: Wie weit darf ich mit persönlichen Fragen gehen, ist es schon zu intim, zu – welches Horrorwort – direkt, wenn ich ihn frage, ob er Kinder hat? Denn es könnte ja sein, dass er geschieden ist und seine Kinder nie sieht, dann wäre meine Frage doch glatt eine Erniedrigung gewesen.
    In den ersten Jahren hatte ich

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