Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
Abfahrt.
Vielleicht ist es tatsächlich das Beste im Moment. Abstand. Seit Nathalies Geburtstag ist Dascha völlig neben der Spur. Jedes Gespräch, jede Geste läuft aufs emotionale Chaos hinaus. Jedes Wort führt in eine Richtung, von der sie sich eigentlich entfernen wollten und die sie doch immer wieder einschlagen. Zu viele Emotionen. Zu viele Gedanken. Und vielleicht sogar zu viel Nähe.
Ja. Vielleicht ist Abstand tatsächlich das Beste.
Er nimmt es ihr nicht übel. All die Jahre über war es seine Devise gewesen. Abstand. Und vor allem: Arbeit. Jeden Tag, manchmal bis spät in die Nacht. Nicht selten hat er seinen Chef um zusätzliche Tätigkeiten gebeten, sich förmlich aufgedrängt, wenn irgendwo Not am Mann war. Arbeit war Ablenkung. Eine Ablenkung, die sich als äußerst effektiv herausstellte. Beinahe zu spät ist ihm aufgefallen, dass es nicht nur darum geht, das zu tun, was für einen selbst am besten ist, sondern auch das in Betracht zu ziehen, was für die Familie wichtig ist.
Fünfzehn. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass seine kleine Nathalie so schnell in dasselbe Alter kommen würde. Auch bei ihm hatte dieser Tag einiges ausgelöst. Der Gedanke an diesen Theo macht ihn noch immer verrückt. Die Vorstellung, dass Nathalie gerade ihn aufsuchen musste.
Sechzehn Jahre ist es her. Fiona. Was hat dieser Kerl ihr damals angetan? Warum hatten ihre Gefühle für ihn solche Macht über ihr Leben und über ihre letzte, so furchtbare Entscheidung?
Es vergeht kein Tag, an dem er sich nicht wünscht, die Zeit zurückzudrehen , um rechtzeitig zu erkennen, was damals scheinbar so offensichtlich war und doch so weit von jeder Vorstellungskraft.
So sehr er den Schmerz mit Dascha teilt, so wenig kann er diesen einen Moment nachempfinden, in dem sie Fiona fand.
Immer wieder sprach sie von dem Lied, das so laut durch die Wohnung dröhnte, dass Dascha wütend wurde. Sie war gerade aus dem Laden nach Hause gekommen und hatte Fiona zugerufen, die Musik leiser zu drehen. Aber sie hatte keine Antwort erhalten. Bis sie in Fionas Zimmer ging, um die Musik selbst leiser zu drehen.
Wie schrecklich muss der Anblick gewesen sein. Zu spät. Mit einer leeren Tablettendose auf dem Bett. Kein Moment kann schlimmer sein. Keine Erkenntnis schrecklicher. Noch immer hat er Daschas Worte im Ohr. Das Zittern in ihrer Stimme , als er den A nruf bekam.
Er erhebt sich vom Bett, das Tagebuch noch immer in der Hand. Er legt es in die oberste Schublade der Schlafzimmerkommode. Der Gedanke, dass Dascha es dort finden wird, macht ihm keine Sorgen mehr. Es ist an der Zeit, die Dinge zuzulassen. Die ersten Schritte sind getan. Und es wird in ihrem Sinne sein, auch den nächsten zu tun.
Er schließt die Schublade. Sein Blick fällt auf das Bild über der Kommode. Er und Dascha, kurz nachdem sie sich kennen gelernt haben. Irgendwo im Haus sind auch Hochzeitsbilder, in Alben, in Rahmen auf dem Schrank, doch das wichtigste Bild, das aussagekräftigste ihrer Beziehung, war stets dieses hier.
Das herzerfrischende Lachen von Dascha. Sein verliebter Blick, während er das Gesicht sanft in ihr offenes Haar schmiegt.
Ihm wird warm ums Herz, als er das Bild betrachtet. Ist es tatsächlich schon über dreißig Jahre her? Noch immer sieht er dieselbe Frau, wenn er sie anschaut. Selbst unter Tränen konnte er ihre Herzlichkeit, ihre Wärme sehen. Bis heute.
Ihm fällt der Brief auf seinem Kissen ein. Sie hatte ihn gebeten, ihn erst zu lesen, wenn sie abgefahren ist. Seltsamerweise verspürt er keine Angst davor. Keinerlei Gedanken, die ihm dazu durch den Kopf gehen.
Er wird sich und Nathalie Abendessen machen. Nichts Weltbewegendes. Vielleicht Spaghetti. Danach wird er den Umschlag öffnen. Vor dem Schlafengehen. Wie lange ist es her, dass sie ihm das letzte Mal geschrieben hat? Fast freut er sich darauf, ihn zu lesen.
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27. November 2010
Mein lieber Armin,
wenn du diesen Brief liest, sitze ich schon im Zug nach Rügen. Auch wenn unser letzter Aufenthalt dort in einem unschönen Streit mit Nathalie endete, denke ich gerne daran zurück. Ich glaube, dass es mir gut tun wird, dort zu sein. Weit weg von allem. Weg vom Alltag. Von all den Emotionen. Und irgendwie auch weg von mir. Kannst du das verstehen?
Die letzten Wochen haben an meinen Nerven gezerrt und mir nur zu deutlich gezeigt, wie wenig belastbar ich bin. Jeder Gedanke an die Vergangenheit zerreißt mir das Herz. Noch immer. Ich weiß, dass es dir
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