Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
ist kälter als noch vor ein paar Wochen, trotzdem ist die Kälte nicht unangenehm. Ich bin wach. Jede Faser meines Körpers erinnert mich an die letzten Tage. Jede Bewegung scheint eine Geschichte zu erzählen.
Ich versuche mir vorzustellen, wo und wann er den Brief gelesen hat. Hat er ihn in einem Stück gelesen? Hat er ihn verstanden? Jedes Wort? Vielleicht hätte ich doch mit ihm reden sollen. Ich verwerfe den Gedanken wieder. Nein. Ich hätte nicht die richtigen Worte gefunden. Der Blick in seine Augen hätte es mir unmöglich gemacht, die Wahrheit bis zum Schluss zu erzählen. Sicher hätte ich geweint. Und ich will nicht weinen. Nicht mehr.
Meine Spuren auf dem Stück Sand, das zwischen Seebrücke und dem Hotel liegt, scheinen sich vor meinen Augen aufzulösen. Was ist für die Ewigkeit? Geht nicht jede Spur im Laufe der Zeit verloren? Und kommt es nicht vielmehr darauf an, wohin die Spuren führen als zu wissen, woher sie gekommen sind?
Ich kenne den Weg zu meinem Zimmer auswendig. Es ist erst mein zweiter Tag, doch bereits der zehnte Spaziergang, den ich mache.
Als ich die Tür öffne, sitzt er auf dem Bett.
"Armin."
"Ich habe am Empfang gesagt, dass ich meine Frau überraschen will." Er lächelt. "Die Rezeptionistin ist sehr romantisch, musst du wissen. Hat problemlos geklappt."
Ich wage es nicht, zu ihm zu gehen. Meine Beine zittern, während ich zu weinen beginne. Es scheint, als wären es seit langem die ersten echten Tränen.
Er steht auf. Seine Hand ist warm, als er mir in so vertrauter Geste über die Wange streicht.
"Bitte weine nicht, Dascha." Seine Arme umschließen mich. "Es ist vorbei."
Keine Fragen. Keine Worte. Zum ersten Mal fehlen sie nicht aus Angst, sondern weil sie überflüssig sind. Meine Hände pressen sich fest auf seinen Rücken. Ich umklammere ihn wie einen Mast, der mich davor bewahrt, von einem Sturm davon gerissen zu werden. Ich spüre seinen Atem ruhig und warm neben meiner Wange und fühle mich selbst ruhiger werden . Kein Sturm, der mich davon reißen könnte. Nicht mal ein Windhauch.
"Boah, ist das scheißkalt da draußen", höre ich eine vertraute Stimme, die vom Balkon ins Zimmer kommt. Nathalie. "Papa, du musst unbedingt herkommen. Die Aussicht ist echt der Hammer!"
Reflexartig möchte ich mir die Tränen aus dem Gesicht wischen, als sie den Raum betritt und unterlasse es im letzten Moment. Sie ist meine Tochter. Kein Verstecken mehr. Weder Tränen noch Erinnerungen.
Sie ist enttäuscht, als sie mich sieht. "Mama, so ein Mist. Jetzt bist du schon da. Wir wollten doch vorher noch Sekt und Cola aufs Zimmer kommen lassen. Sollte ne Überraschung werden."
Armin nickt, ohne seinen Blick von mir abzuwenden.
Ich lächle. "Eine prima Idee. Wie wär’s, wenn wir den Sekt unten trinken? Die haben da auch ein tolles Büffet."
"Klasse, ich hab nen Mordshunger!", antwortet sie fröhlich.
Grinsend läuft sie an uns vorbei in Richtung Flur. Auf halber Strecke dreht sie um und wirft uns einen erwartungsvollen Blick zu.
"Also, was ist nun? Wollt ihr hier Wurzeln schlagen? Das Büffet leert sich nicht von allein."
E N D E
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