Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
Ihrer Familie reden könnten anstatt mit mir."
"Man hat nicht auf alle Dinge Einfluss", antworte ich. "Und das wissen Sie."
Für einen Moment schweigt er. Die Stille ist erdrückend. Viel zu lange habe ich mit diesem Mann geredet. Einem Mann, der nichts mehr mit meinem Leben zu tun hat. Nichts mehr mit meinem Leben zu tun haben sollte .
"Ich werde jetzt gehen." Ich stehe auf.
Er erhebt sich ebenfalls aus seinem Stuhl. Zum ersten Mal seit Beginn unseres Gesprächs nehme ich ihn als Kopf eines Unternehmens wahr. Nicht nur als Musiker, der eine ganz eigene Sicht der Dinge hat, sondern als Mann, der scheinbar auf relativ unspektakuläre Art sein Geld verdient. Wie passt die Kompromisslosigkeit des Musikerdaseins mit der Leitung eines eigenen Landschaftsbetriebes zusammen?
Für einen kurzen Moment schaut er mich schweigend an. Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen.
"Sie sind damals zu mir gekommen, nicht umgekehrt", sagt er schließlich. "Vergessen Sie das nicht."
Seine Worte reißen jede Zeile unseres Gesprächs aus dem Zusammenhang und treffen mich unerwartet. Warum spricht er das Unnötige aus?
Mir wird kalt.
"Es war nicht meine Schuld", fügt er hinzu.
Ich möchte antworten, doch die Worte fehlen. Selbst die Gedanken hinter den Worten.
Ich erwidere seinen Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde verbindet uns etwas. Vielleicht dasselbe, das uns trennt.
"Ich muss gehen", antworte ich. "Denken Sie an das, worum ich Sie gebeten habe."
Ich sehe nicht, ob er nickt. Ich höre nicht, ob er antwortet.
Es sind zwei Minuten bis zu meinem Wagen.
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Der Korb unsortierter Socken hat eine unverzeihliche Fülle erreicht. Wann habe ich mich das letzte Mal darum gekümmert?
Ich bin dankbar für diese Beschäftigung, die mir keinerlei Konzentration abfordert, während ich kleine Häufchen mit dunklen, weißen und bunten Socken auf dem Bett ausbreite.
"Mama?" Sie ist früher zu Hause, als ich erwartet hätte. "Was machst du in meinem Zimmer?"
"Ich sortiere Socken."
"Das sehe ich. Aber warum tust du es hier?"
"Ich hab auf dich gewartet."
Sie legt ihre Schultasche zwischen Schreibtisch und Kommode und wirft ihre Jacke über die Lehne des Drehstuhls.
"Und warum hast du gewartet?"
Ihre Stimme hat etwas Ahnendes. Sicher hat mich wieder einmal mein Blick verraten. Die Sorgen, die ich noch immer nicht gelernt habe zu verbergen.
"Ich war bei diesem Theo, Nathalie."
"Der Typ aus der Band?" Sie setzt sich aufs Bett, während sie den Stapel dunkler Socken zur Seite schiebt. "Aber warum? Die Sache war doch geklärt."
"Geklärt war gar nichts."
"Ich versteh nicht, warum ihr da so eine große Sache draus macht."
"Ihr?"
"Papa hat mich auch schon darauf angesprochen. Ich hab doch schon gesagt, dass ich nicht mehr hingehe. Vertraut ihr mir denn gar nicht?"
Die Hände in ihrem Schoß scheinen sich zu verkrampfen. Die Wut eines Teenagers.
"Natürlich vertrauen wir dir."
"Und warum merke ich davon nichts?"
"Ich hab mir Sorgen gemacht, Nathalie. Deshalb war ich dort."
"Immer dieses ständige Wir haben uns Sorgen gemacht . Ich bin Fünfzehn, Mama. Fünfzehn ."
"Ja, du bist Fünfzehn", wiederhole ich leise.
"Also?" Sie schaut mich erwartungsvoll an. Das Fordern in ihren Augen erinnert mich an unser Gespräch am Strand. Beinahe kommt es mir jetzt wie eine Ewigkeit her vor. Wie viel ist seitdem geschehen? Und letztendlich gar nichts. Die Zeit scheint weiterzulaufen, ohne zu berücksichtigen, dass manche Dinge ungeklärt geblieben sind.
"Ich wollte nur, dass er dich künftig in Ruhe lässt", antworte ich. "Er hat unserer Familie nicht gut getan. Und ich möchte, dass er auch in Zukunft nichts mit uns zu tun hat."
"Er hat doch auch nichts mit uns zu tun. Ich hab ihm einfach ein paar Fragen gestellt. Das ist alles. Und jetzt kann er meinetwegen weiter durch schummrige Bars ziehen und mit seiner seltsamen Band peinliche Texte runterleiern."
"Ich bin sicher, das tut er." Ich lächle. Ein Lächeln, das unerwidert bleibt.
"Ich kapier nur nicht, warum du hinter meinem Rücken da hingehst und mit dem Typen über mich redest." Sie redet sich in Rage. Der verzweifelte Kampf, ernst genommen zu werden.
"Es war nicht hinter deinem Rücken, Nathalie. Schließlich reden wir doch gerade darüber, oder?"
"Ja, wir reden darüber. Wir reden. Wir reden ständig. Aber im Grunde sagen wir nichts."
"Wie meinst du das?"
"Ihr behandelt mich wie eine Puppe. Papa. Du. Was soll das? Warum tut ihr so, als
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